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Das Geheimnis des Hohen Nests

Als Roxane van Iperen (Bild) im Jahr 2012 in eine abgelegene, alte Villa zieht, ahnt sie nichts von der Geschichte des Hauses. Sie forscht nach und entdeckt Unglaubliches: «Ein Versteck unter Feinden. Die wahre Geschichte von zwei jüdischen Schwestern im Widerstand» – so der Titel des daraus entstandenen Buchs.

Die Familie van Iperen suchte vor acht Jahren ein «Häuschen im Grünen» und fand östlich von Amsterdam eine alte Villa, mitten in einem verwilderten Garten, abseits der Stadt Naarden im Wald- und Heidegebiet. Das Hohe Nest (‘t Hooge Nest), wie der Name der Villa heisst, ist für die Familie mit drei kleinen Kindern, drei Katzen und einem Schäferhund ein Traumhaus. Beim Renovieren staunen sie über die zahlreichen doppelten Böden und Hohlräume hinter den Wänden, wo sie Kerzenstummel, Notenblätter und Zeitungen des Widerstands aus dem Zweiten Weltkrieg finden. Das Interesse ist geweckt.

Roxane van Iperen

Die 1976 geborene Juristin und Publizistin Roxane van Iperen befragt die ehemalige Hausbesitzerin, die Nachbarn und Ladenbesitzer der Umgebung. Sie lässt nicht locker, reist zu den Archiven nach Amerika und Israel und bringt ein erstaunliches Stück Zeitgeschichte ans Tageslicht.

Während des zweiten Weltkriegs lebten zwei Schwestern mit ihren Familien, Freunden und Bekannten im Hohen Nest. Sie waren Jüdinnen, die von hier aus gegen die Nationalsozialisten den holländischen Widerstand mitorganisierten. Die Frauen kamen in einfachsten Verhältnissen im jüdischen Quartier in Amsterdam zur Welt, wo die Familie Brilleslijper einen Gemüse- und Obsthandel betrieb. Das Leben der drei Kinder Rebekka «Lien» (1912-1988), Marianne «Janny» (1916-2003) und Jacob «Jaap» (1921-1944) spielte sich hauptsächlich auf der Strasse ab. Sie besuchten die Volksschule, weiter reichte das Geld nicht.

Lien, spontan und extrovertiert, wurde zum Leidwesen des Vaters nicht Lehrerin, sondern Tänzerin und Sängerin; der Vater entstammte einer Zirkusfamilie. Sie arbeitete tagsüber als Näherin, nahm abends Tanzunterricht und trat in Clubs auf. Die Jüngere Janny schlug der Mutter nach, war nüchtern, reserviert und verfügte über einen eisernen Willen. Sie wollte für eine bessere Gesellschaft kämpfen, beschäftigte sich mit dem Kommunismus und warnte die Eltern erfolglos vor der «braunen Gefahr». Als Neunzehnjährige wurde sie im Untergrund aktiv und organisierte Unterkünfte für die steigende Zahl von Flüchtlingen aus Deutschland.

Die Schwestern begegneten Ende der dreissiger Jahre ihren nichtjüdischen Männern. Trotz Weigerung der Schwiegereltern heiratete Janny im September 1939 Bob Brandes (1912-1998), ein Monat später kam ihr Sohn Robert zur Welt. Um Geld zu verdienen, brach Bob sein Studium ab und arbeitete als Beamter. Lien hatte sich in den deutschen Konzertpianisten Eberhard Rebling (1911-2008) verliebt, der vor den Nazis und dem militaristischen Vater aus seiner Heimat geflüchtet war. Sie bildeten ein künstlerisches Duo, er komponierte und begleitete sie zu ihren Liedern und Tänzen am Piano.

Das Hohe Nest (‘t Hooge Nest)

Mit der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten am 10. Mai 1940 wurden alle Juden und Oppositionellen zusammengetrieben und über Westerbork in die verschiedenen Konzentrationslager gebracht. Der niederländische Widerstand, auch die Schwestern und ihre Partner, arbeiteten vom Untergrund aus weiter und waren ständig auf der Flucht. Durch einen Tipp entdeckten sie die alte Villa, Das Hohe Nest, das ihnen zwei alte Damen vermieteten.

Die Villa stand mitten in der unberührten Natur, in der Ferne die Zuiderzee, grosse Fenster ermöglichten freie Sicht auf die Landschaft rundum. Vom Februar 1943 bis Juli 1944 wurde sie für die ganze Familie, mit den Eltern Brilleslijper, zum neuen Zuhause. Das grosse Gebäude bot vielen Vertriebenen zeitweise einen Unterschlupf, manchmal lebten fünfundzwanzig Personen hier. Für den Fall ungebetener Besucher baute der handwerklich geschickte Bruder Jaap verschiedene Sicherheitsvorrichtungen, Lichtzeichen, Zwischenböden und Hohlräume in den Wänden, die bei Gefahr rasch zum Versteck wurden. Eine grosse chinesische Vase stand im halbrunden Fenster im Dachgeschoss. Man sah sie gut von der Strasse her, fehlte sie, drohte Gefahr. Die diversen Notmassnahmen wurden regelmässig geübt. Nur wenige Kilometer entfernt lebten die Nazi-Herrschaften im noblen Villenquartier und ahnten nichts von dem subversiven Haus im Wald.

Während anderthalb Jahren ging alles gut, bis das Hohe Nest am 14. Juli 1944 verraten wurde. Dann ging alles schnell. Sie gehörten zu den letzten mit Anne Frank und ihrer Schwester Margot, die über Westerbork nach Auschwitz ins Lager kamen. Die Kinder konnten sie rechtzeitig in Sicherheit bringen. Liens Partner Eberhard Rebling gelang die Flucht, als deutscher Deserteur wäre er erschossen worden. Jannys nichtjüdischer Mann Bob Brandes wurde gewarnt und kehrte nicht ins Haus zurück.

Im Konzentrationslager begann das unsägliche Leiden, die Eltern und der jüngere Bruder starben in der Gaskammer, die Schwestern blieben zusammen, auch mit den Schwestern Frank. Sie unterstützten sich gegenseitig, dabei halfen der eiserne Willen der nüchtern und strategisch denkenden Janny zum Überleben, aber auch Liens jiddische Lieder. Im November 1944 wurden sie ins Lager Bergen-Belsen überführt. Margot und Anne Frank waren schwer krank, sie gaben auf. Lien war ebenfalls krank, Janny holte sie aus dem Lazarett, dadurch lebte sie, als die Briten am 15. April 1945 das Lager Bergen-Belsen befreiten.

Zurück in Amsterdam fanden Janny und Lien ihre Männer Bob und Eberhard sowie die Kinder. Otto Frank, der das KZ Auschwitz überlebt hatte, konnten sie die Nachricht vom Tod seiner Töchter überbringen.

Fotos: © Jan Willem Kaldenbach

Roxane van Iperen, Ein Versteck unter Feinden. Die wahre Geschichte von zwei jüdischen Schwestern im Widerstand, 399 S., Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2020 (übersetzt aus dem Niederländischen). ISBN 987-3-455-00645-2

Lien Rebling-Brilleslijper lebte in der DDR und wurde unter dem Künstlernamen Lin Jaldati als Sängerin Jiddischer Lieder bekannt. Mehr dazu hier 

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1 Kommentar

  1. Ein Buch zum Umfeld von Anne Frank, das bringt die Geschichten um den Widerstand gegen die Nazi und die schreckliche Zeit im KZ wieder vermehrt ins Gedächtnis. Nötig in Zeiten, wo der Antisemitismus wieder salonfähig wird.
    Ausserdem: das Video, das die Rezensentin unterhalb des Beitrags mit Link angibt, ist schlicht wunderbar, schlägt einen Bogen bis fast in die Gegenwart, bringt einem die eine der beiden Schwestern nochmals näher.

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