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Tunis auf der Couch

Die französisch-tunesische Regisseurin Manele Labidi hat in ihrem Debütfilm «Un divan à Tunis» Tunesien auf die Couch gebeten und gelegt: humorvoll und klug, unterhaltsam und hintersinnig.

Ein wahnwitziger Plan treibt die Psychologin Selma an: Sie will in ihr Heimatland Tunesien zurückkehren und dort eine Praxis für Psychotherapie eröffnen. Das Vorhaben der selbstbewussten Französin stösst anfangs auf Skepsis und Widerstand, bald aber auch auf grosses Interesse. Denn der Redebedarf der tunesischen Bevölkerung in den Jahren nach der Revolution ist enorm. Weil die bürokratischen Mühlen langsam mahlen und sie keine Arbeitsbewilligung bekommt, empfängt sie ihre Kunden auf dem Dach eines Wohnhauses. Die Kuriositäten ihrer alten Heimat sowie die bunten Charaktere, die sich bei ihren therapeutischen Sitzungen einfinden, unterhalten uns bestens. Selma trifft auf eine hochemotionale Schönheitssalon-Besitzerin mit Mutterkomplex, einen depressiven Imam, einen Mann mit politisch-erotischen Träumen, einen mysteriösen Fremden mit freudschen Zügen, einen hyper-moralischen Polizisten, eine lesbische Nichte und zwei übereifrige Sittenwächter. Zusammen reizen diese ihre Familie zum Ausruf: «Wir haben Gott, wir brauchen so etwas nicht!»

Die Psychologin mit ihrer Nichte

Psychoanlalyse im Islam: humorvoll durchdekliniert und durchkonjugiert

«Un Divan à Tunis», der Spielfilmerstling der 1982 bei Paris geborenen Regisseurin Manele Labidi ist eine Hommage an die Heimat ihrer Eltern. Mit ihrer eigenwilligen Handschrift erzählt sie die Geschichte einer Frau auf der Suche nach ihrer eigenen Identität in Form einer turbulenten Komödie. Sie fängt den märchenhaften Zauber der arabischen Kultur ein und setzt sich auf eine humorvolle und gleichzeitig ernsthafte Art mit ihr auseinander. In der Hauptrolle brilliert die iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani, die seit 2009 in Frankreich lebt und in verschiedenen Filmen, unter anderem in «The Patience Stone», aufgefallen ist. Für die Feinheiten der Realisation sind im weiteren Laurent Brunet (Kamera), Flemming Nordkrog (Musik) und Yorgos Lamprinos (Schnitt) zuständig.

Zur geografisch-historischen Situierung des Films hier eine kurze Einleitung mit drei auf dieser Website besprochenen Filmen. Diese beschreiben die gesellschaftliche Entwicklung Tunesiens während des «Arabischen Frühlings», wie er startete, korrumpierte und endete. Den «Vorfrühling» sozusagen schilderte 2015 «As I Open My Eyes» von Leya Bouzin, den «Spätherbst» 2016 «Hedi» von Mohamed Ben Attia und den «Winter» 2017 «La belle et la meute» von Kaouther Ben Hania.

Als Kontrast – keineswegs als Kritik! – und als Ausweitung des grundsätzlichen Themas «Psychoanalyse und Islam, respektive Judentum, respektive Orthodoxien», hier ein Verweis auf meine Buchbesprechung von Arn Strohmeyers «Der Kampf um die Wahrheit. Israels Politik gegenüber den Palästinensern aus Sicht der Psychoanalyse».

Mit einem Klienten mit erotischen Träumen

Aus einem Interview mit der Regisseurin Manele Labidi

Bevor Sie mit «Un divan à Tunis», ihren ersten Spielfilm, gedreht hatten, arbeiteten Sie als Drehbuchautorin und Regisseurin im Theater-, Radio- und TV-Bereich. Warum wollten Sie nun Ihren eigenen Film fürs Kino drehen?

Manele Labidi: Filme waren immer ein wichtiger Teil meines Lebens. Die Bilder, die Schauspieler, die Geschichten und die Energie im Kinosaal übten eine magische Faszination auf mich aus. Die Idee, aus dieser Faszination einen Beruf zu machen, kam allerdings bei mir erst spät auf. Denn als junger Mensch war im Umfeld, in dem ich aufgewachsen war, nicht einmal an eine künstlerische Karriere zu denken. Ich studierte deshalb Wirtschafts- und Politikwissenschaften und bekam einen guten Job in einer Bank. Als ich begann, mir keine Sorgen mehr um meine materielle Sicherheit zu machen, spürte ich plötzlich eine grosse Leere. Während meines Studiums hatte ich bereits Texte und Drehbücher geschrieben, die ich nun wieder zur Hand nahm. Ich liess mein bisheriges Leben hinter mir und fing noch einmal ganz von vorne an, indem ich mir das Filmemachen selbst beibrachte. Danach traf ich Schauspielerinnen wie Isabelle Carré, der ich glücklicherweise einige Monate assistieren durfte, als sie Regie bei einem Stück führte, das ich für das Theater adaptiert hatte. Die Zusammenarbeit mit ihr war für mich ein Erweckungserlebnis.


Manele Labidi, Drehbuchautorin und Regisseurin

Was war der Ausgangspunkt für Ihren Film?

Zum einen ein Gespräch mit meiner Mutter, in dem ich ihr gesagt hatte, dass ich regelmässig zu einem Psychologen gehe. Meine Mutter fühlte sich in gewisser Hinsicht von mir hintergangen: Wie konnte ich nur all diese privaten Dinge einem Fremden erzählen und dafür auch noch Geld bezahlen? Meine Mutter bot mir sogar an, die Rolle meiner Psychiaterin zu übernehmen. Das zweite entscheidende Ereignis, das mich zu meinem Film inspirierte, war die tunesische Revolution 2011 und der Einfluss, den sie auf diejenigen Tunesier hatte, die ich in den Monaten danach traf. Tunesien war mit seinen Landschaften, seinem Licht und seiner heterogenen Bevölkerungsstruktur für mich schon immer ein Ort, der starke filmische Geschichten hervorbringt. In diesem Land trifft die arabisch-muslimische auf die mediterrane Kultur.

Ihr Film zeigt die tunesische Gesellschaft in all ihrer Lebhaftigkeit und gleichzeitig inmitten von grossen kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen. Warum war es für Sie so wichtig, die Handlung nach der tunesischen Revolution anzusetzen?

Nachdem die jahrzehntelange Diktatur ihr Ende gefunden hatte, wurde das Land plötzlich «gesprächig». Es sprudelte nur so aus den Leuten heraus. In den lebhaften Konversationen ging es unter anderem um die Zukunft Tunesiens, die sich abzeichnende ökonomische Krise und das Ausmass des islamischen Extremismus. Ich verstand, dass die Revolution einen Einfluss auf die Psyche der Bevölkerung gehabt hatte. Das abrupte Ende der Diktatur liess die Bewohner des Landes sehr verunsichert im Chaos zurück. Die Monate nach der Revolution erinnern mich an die ersten Monate meiner Psychotherapie. Du fühlst dich verloren, du hinterfragst alles, musst immer wieder neue Kraft aus dir selbst schöpfen. Auf einmal fallen viele Dinge um dich herum wie ein Kartenhaus zusammen. Aus diesem Gefühl heraus entstand die Idee, die Figur einer französisch-tunesischen Psychotherapeutin zu erschaffen, die durch ihre Arbeit einen entscheidenden Teil zu dem Wiederaufbau ihres Heimatlandes beiträgt.

Interview mit der Regisseurin Manele Labidi

Regie: Manele Labidi; Produktion: 2019; Länge: 92 min; Verleih: Präsens

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