StartseiteMagazinKulturWie Kriege Seelen nachhaltig zerstören

Wie Kriege Seelen nachhaltig zerstören

Warum eine berühmte Psychoanalytikerin und Kinderrechtlerin mit ihrem eigenen Kind gefühlskalt umging, hinterfragt der Schweizer Regisseur Daniel Howald im Film «Who’s afraid of Alice Miller?»: differenziert, vielschichtig, spannend.

Martin Miller wird vom Vater geschlagen, seine Mutter begegnet ihm mit Nichtbeachtung und Gefühlskälte; er erlebt eine Kindheit ohne Liebe. Die Geschichte klingt wie ein Fallbeispiel aus dem Buch «Das Drama des begabten Kindes» der weltberühmten Psychoanalytikerin Alice Miller. Doch Martin ist der Sohn dieser engagierten Kinderrechtlerin. Nach deren Tod schrieb er darüber das Buch «Das wahre Drama des begabten Kindes. Wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken» (2013). Und dann machte er sich mit dem Filmemacher Daniel Howald auf eine lange Reise in die Vergangenheit und ins Unbekannte, um endlich den Widerspruch zwischen den klugen Aussagen der Psychologin und der Unmenschlichkeit der Mutter zu verstehen.

Martin Miller mit Texten seiner Mutter Alice

In den 80er Jahren war Alice Miller (1923 – 2010) eine weltweit bekannte Persönlichkeit, ihre Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt, ihre Bestseller, «Das Drama des begabten Kindes» (1979), «Am Anfang war Erziehung» (1980) und «Du sollst nicht merken» (1981), sind noch heute in psychologischen und pädagogischen Kreisen ein Begriff. – Die drei Bände liegen im Moment vor mir auf dem Pult, daneben eine Publikation über Antipädagogik, für die ich damals mit Alice Miller korrespondierte.

Durch den Film «Who’s afraid of Alice Miller?» führen uns Martin Miller und die lebensfrohe Irenka Taurek, die Cousine von Alice, ebenfalls eine Holocaust-Überlebende. Sie hoffe, sagt sie, dass Martin durch diese Reise das Leiden seiner Kindheit ein wenig auf die Seite schieben könne. Mit Martin sprechen im Film von Daniel Howald die Journalistin Cornelia Kazis, Oliver Schubbe, der Therapeut der Mutter, die Psychotherapeutin Ania Dodziuk, die Holocaustforscherin Katrin Stoll, der Journalist Martin Sander, der Historiker Matan Shefi und die Kulturwissenschaftlerin Elżbieta Janicka.

Der Protagonist mit Cornelia Kazis im Gespräch

Eine Reise in Martin Millers traurige Vergangenheit …

Die Recherche, die der Filmemacher mit dem Protagonisten gemeinsam macht, ist keine alltägliche; es ist eine existenzielle Suche nach Martins leidvoller Vergangenheit und der komplexen und widersprüchlichen Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Dieses Verhalten ist mir persönlich bereits nach den ersten Sequenzen als etwas fast Unverdaubares im Hals stecken geblieben. Deshalb war ich auch bereit und in hohem Masse interessiert, in diesen Fragenkomplex einzusteigen.

Auf der Suche nach Dokumenten

… und in Alice Millers verschollene Vorgeschichte

Mit dem Dokumentarfilm «Who’s afraid of Alice Miller?» verfolgt Daniel Howald das Leben von Alice Miller, ihres Gatten, ihrer Eltern, Geschwister und nahen Verwandten. Dies nachzuzeichnen übersteigt meine Fähigkeit als Nicht-Historiker. Der Regisseur aber tut es mit kriminalistischer Akribie, was den Film extrem spannend macht. Die Recherche führt in die USA, nach Warschau, Berlin und an weitere Orte. Je länger die Reise dauert, desto mehr wird die Familiengeschichte offenbar, wenn auch nie eindeutig und abschliessend. Hinter den Fakten und Erinnerungen bleibt weiterhin vieles verborgen.

Nach und nach wird eine heisse Spur erkennbar. Alice Miller stammte aus einer polnischen jüdischen Familie und hatte, im Gegensatz zu vielen ihrer Verwandten, überlebt, wurde dann aber wie ein Wild gejagt, musste zur Selbsterhaltung lügen und lebte unter falscher Identität in Warschau mitten unter den Nazis. Hier hat sie Gräueltaten des Krieges als Beobachterin erlebt. Diese traumatischen Erlebnisse von damals verdrängte Alice aber, spaltete sie ein Leben lang ab – und übertrug sie auf ihren Sohn, er wurde ihr Feind. Erst allmählich wird all dies in den Gesprächen erkennbar. Briefe und Ausschnitte aus Erzählungen von ihr, die im Film Katharina Thalbach vorträgt, weichen die extremen Gegensätze zwischen der Kinderfreundlichkeit als Wissenschaftlerin und der Kälte und Verschlossenheit als Mutter auf. Allmählich wird einem bewusst, dass der seelische Schmerz Martins das Ergebnis von etwas ist, das er, im Gegensatz zur Mutter, gar nie selbst erlebt hat. Der Film thematisiert die unbewussten und belastenden Auswirkungen des Holocaust-Traumas von Alice. Dies bringt der Film Stück um Stück zutage und erweitert so, grundsätzlich verstanden, die Individualpsychologie zur Gesellschaftspsychologie.

Martin Miller in seiner Praxis

Mit Verweisen auf die Gegenwart …

Martin ist am Schluss des Filmes etwas erleichtert, auch wenn er vieles nicht akzeptiert, er versteht es. Alice Miller hat die Shoa überlebt und entsprechend ihrem unverarbeiteten Leiden als Mutter gehandelt. Von hier aus schlägt der Film einen Bogen in die Gegenwart: unsere aktuelle Situation mit den Flüchtlingen aus den Kriegsländern, etwa Syrien, aber auch, so ergänze ich, Vietnam, dem Nahen Osten und Ex-Jugoslawien. «Who’s afraid of Alice Miller?» belegt eine Aussage, die ich bei verschiedenen Besprechungen von Kriegsfilmen wiederholt gemacht habe: Kriege endet nicht mit dem Kriegsende, sie gehen bei den Überlebenden weiter, in ihrem Unterbewussten, ihrem Bewusstsein, ihren Taten. In Martins Geschichte verschränkt sich so Individuelles mit Historischem. Er übernahm das seelische Erbe seiner Mutter, die ihr Kriegstrauma bei sich abgespaltet hatte, deren Gewaltmechanismen sie jedoch in ihren Büchern hellsichtig durchschaut und anprangert: Die Frau, die als eine der ersten den sexuellen Missbrauch und das Schlagen von Kindern thematisierte, sich dagegen einsetzte, dem Papst und Politikern Briefe schrieb, war im Privaten eine ganz andere, eine kalte, lieblose Mutter.

Gespräche mit Wissenschaftlern verschiedener Richtungen

… und die «transgenerationalen Traumata»…

Der Film zeigt auf, dass zur Überwindung dieses Traumas Mauern durchbrochen werden müssten. Das aber hat Alice damals nicht geschafft; erst Martin hat jetzt den Mut, sich dem Trauma seiner Kindheit zu stellen und macht das, was seine Mutter als Wissenschaftlerin gefordert hatte: den Teufelskreis der Gewalt zu durchbrechen, denn sonst schlagen «die verheerenden Folgen der Traumatisierung des Kindes unweigerlich auf die Gesellschaft zurück» (Alice Miller). Und Howald dazu: «Der Film zeigt eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit vererbten, sogenannten «transgenerationalen Traumata» (Traumata, an denen die Menschen erst der nächsten Generation leiden). Martin zog los, um zu erfahren und zu erleben, was seine Mutter damals während der Shoa in Polen durchmachen musste. Das Entdecken des von den Eltern Verschwiegenen hilft, die eigenen schmerzhaften Gefühle, deren Wurzeln bis dahin im Dunkeln lagen, zu verstehen. Martin wurde so Teil des Krieges, ohne je selbst im Krieg gewesen zu sein.» Das alles und noch mehr bringt der sehr gut gemachte Film zutage – und ist deshalb wichtig und notwendig.

Regie: Daniel Howald, Produktion: 2019, Länge: 101 min, Verleih: Royal Film

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1 Kommentar

  1. Ein wirklich interessanter Film über eine wichtige Persönlichkeit. Anscheinend gibt es auch einen Alice Miller Friedenspreis in Erinnerung an sie (Alice Miller Peace Prize).

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