Einen Roman über Gustav Mahler, den berühmten Komponisten und Dirigenten, ohne näher auf sein musikalisches Schaffen einzugehen? Was bleibt dann noch? Viel. Ein ganzes Leben. Erfolge, Begeisterungsstürme, die Liebe, Verluste, Tod. Robert Seethaler zeichnet in «Der letzte Satz» ein Musikerporträt, das vieles nur anklingen lässt und doch dicht und sehr nahe am Menschen ist.
An Deck eines Schiffs irgendwo auf dem Atlantik sitzt ein kleiner, verhärmter Mann. Eingewickelt in Decken, einzig umsorgt von einem Schiffsjungen. Und unten, im Bauch des Schiffs, sitzen seine grosse Liebe Alma und seine Tochter Anna. Sie werden nicht an Deck kommen. Da ist nur dieser Schiffsjunge und das weite Meer. Und seine Erinnerungen.
Gustav Mahler, Dirigent und Komponist
Es sind diese Erinnerungen, die Robert Seethaler in seinem lakonischen Stil zwar anklingen, aber auch vorbeidriften lässt. So hängt der Titel des Buches «Der letzte Satz» denn auch irgendwie im luftleeren Raum. Ist damit der Schluss von Mahlers neunter Sinfonie «Der Abschied» gemeint, die unvollendete Zehnte oder doch eher die Bilanz eines schillernden Lebens, das auf dieser Fahrt von New York nach Europa ein Jahr vor seinem Tod 1911 langsam zu Ende geht?
Mahler als Erneuerer
Seethaler lässt vieles offen. So werden Mahlers Verdienste als bejubelter Dirigent und als gefeierter «Opernregisseur» in wenigen Sequenzen abgehandelt. Dabei war Mahler der Erste, der dem damals gängigen «Rampensingen» ein Ende machte und von den Singenden auf der Bühne szenischen und schauspielerischen Einsatz verlangte. Diese von ihm angestrebte Einheit von Musik und Theater führte zwar zu Konflikten, vor allem an der Hofoper Wien, an die er «als junger Mensch von 38 Jahren» berufen wurde. Sie begründete aber auch seinen Ruf, führte ihn durch die Kulturmetropolen Europas und 1907 an die Metropolitan Opera nach New York.
Und nun also reist er zurück nach Europa. Er ist herzkrank – wobei: Richtig gesund hat er sich nie gefühlt, litt schon als Kind an Migräne, Schwindelanfällen, Entzündungen, einem gereizten Magen und schmerzenden Gelenken. Und doch strahlte dieser kleine, reizbare, dunkelhaarige Mann, immer in Bewegung, eine Intensität aus, die seine Umgebung in Bann zog. Auch die Frauen. Dass die zu ihrer Zeit «schönste Frau Wiens», Alma Schindler, kultiviert, gebildet, aus besten Kreisen stammend, sich in den kleinen, zum Katholizismus konvertierten Juden verliebte und ihn heiratete, ist Robert Seethaler fast mehr Zeilen wert als das kompositorische Schaffen des Unermüdlichen.
Von Wien nach New York
Seine Verdienste als Dirigent werden hingegen thematisiert, seine Reisen «die Weltkarte hoch und runter», seine Interpretationen «heiliger» Kulturgüter wie Beethovens Neunter, «die der Jud zusammenstrich und überpinselte, wie es ihm gerade passte». Da konnte auch seine schöne Frau oder der ergreifendste «Fidelio», den die Hofoper jemals erlebt hatte, nicht mehr viel helfen: 1907 demissionierte Mahler als Direktor der Wiener Hofoper. New York wartete. Seine älteste Tochter Maria starb mit nur fünf Jahren noch vor seiner Abreise in die USA an Scharlach.
Als «Springteufel» wird der Dirigent Mahler in der Presse mal bezeichnet. Er revolutiomierte die Opernproduktionen.
Es sind viele Bilder, viele Erinnerungen, die Seethaler Gustav Mahler auf seiner letzten Seereise zuschreibt. Und vieles, das er einfach aussen vor lässt. Will er aufzeigen, dass am Ende des Lebens der Körper mit seinen Gebresten wichtiger ist als der Geist? Beweisen, dass Mahlers Musik, in der er, wie als Dirigent, nach neuen Wegen suchte, aber auch dem Schmerz, der Auflehnung und Zukunftsangst Raum gibt, nur mehr Disharmonie ist, die den körperlichen Zerfall begleitet?
Es bleibt vieles im Vagen, wird von den Wellen des Meeres davongetragen. Mahlers Begegnung mit Freud zum Beispiel: «Besorgen Sie sich einen Pullover. Es zieht in diesen Waggons.» Dies ist laut Seethaler die Quintessenz eines knapp vierstündigen Treffens, für das Mahler eine fast zweitägige Anreise auf sich genommen hatte. Einzig die Sitzungen bei Rodin haben etwas Substanz. Da treffen zwei Urgesteine aufeinander, der kleine, ungeduldige Musiker und der Bildhauer, grob, schmutzig, laut. Ihr Dialog ist eine der witzigen Passagen im Buch, denn Mahler versteht Rodins französische Flüche nicht, die dessen Muse Claire de Choiseul «übersetzt». Beispiel? «Tais-toi, putain!» wird zu einer höflichen Bitte, stillzusitzen.
Schmerzlicher Verlust
Was sich durch das ganze Buch zieht, ist Mahlers tiefe Liebe zu seiner Alma. Zu der Frau, die ihm unmerklich abhanden kommt, sich während einer Kur in einen «Baumeister» verliebt. Der nicht von seiner Musik, seinen Krisen und seiner Schaffenswut – ahnt Mahler wohl, dass seine Zeit knapp bemessen ist? – so absorbiert ist, dass seine Frau zwangsläufig in den Hintergrund tritt. Dass Almas neue Liebe der junge Architekt Walter Gropius ist, darauf geht Seethaler nicht ein. Es bleibt die Figur am Rande. Auch hier: Schmerz und die Seele zerreissende Disharmonien werden abgefedert vom Wellenrauschen des Meeres.
Und doch ist Seethalers «Der letzte Satz», trotz aller Trivialität, trotz aller biografischen Auslassungen, ein Roman, der fesselt und berührt. Der Autor schafft eine Atmosphäre der Resignation, der Verzweiflung und betont diese Stimmungslage durch seine schlichte Sprache und die banalen Anmerkungen, die nur wenig von Mahlers Persönlichkeit, seinem Genie ausdrücken. So bleibt ein recht schmales Bändchen über einen Mann, der sein Ende nahen fühlt und merkt, dass ihm Ruhm und Ehre auf der letzten Wegstrecke nichts mehr bedeuten. Und dass sich die Liebe still davongemacht hat, geopfert auf dem Alter der Kunst – und des Ehrgeizes.
Robert Seethaler: Der letzte Satz. 128 Seiten. Hanser Verlag Berlin 2020. ISBN 978-3-446-26788-6.