StartseiteMagazinKulturEin Gigant und sein Kosmos

Ein Gigant und sein Kosmos

Friedrich Dürrenmatt und sein wenig bekanntes Spätwerk ist im Zürcher Literaturmuseum Strauhof in einer stimmigen, gescheiten und eindrücklichen Ausstellung zu sehen. Der Erzähler und Dramatiker, Denker und Zeichner war ein unermüdlicher Schaffer.

Diesen Dürrenmatt will uns die Ausstellung zum späten Prosawerk näher bringen. «Unglaublich produktiv» sei der Schriftsteller und Künstler gewesen, erinnert Kurator Peter Erismann, so erstaunt es nicht, dass eine Veranstaltung zu Friedrich Dürrenmatts (1921-1990) hundertstem Geburtstag Anfang des kommenden Jahrs nicht ausreicht. Im Literaturarchiv – bekanntlich seinetwegen gegründet – gibt es eine Ringvorlesung und das Centre Dürrenmatt Neuchâtel steckt voller Pläne für das kommende Jubeljahr.

Das grosse Porträt von Varlin eröffnet den «Kosmos Dürrenmatt». Foto: Zeljko Gataric

Nun also der Kosmos Dürrenmatt, dessen spätes Prosawerk aufs Frühwerk zurückgreift, insofern als viele Ideen und Inhalte nicht erst nach der grossen Krise am Theater, oder expliziter nach dem Durchfallen des Stücks Der Mitmacher entstanden sind. Eingestimmt auf Dürrenmatt werden die Besucher mit einer riesigen Malerei mit einem lebensgrossen Dürrenmatt bequem auf einem Bett ruhend – ein Porträt von Varlin, der ihm lebenslang ein enger Freund war. So stand an der Wand hinter Dürrenmatts Schreibtisch das Grossformat Heilsarmee des Malers – bis es der Dichter für eine Ausstellung ausleihen musste.

Kurator Peter Erismann erklärt die Collage aus Dürrenmatts Arbeitszimmer. Foto: E. Caflisch

Über Nacht deckte er die banale Wand mit einer Collage zu: Theaterplakate aus fernen Ländern, Weinetiketten, Skizzen, Fotos – auch eins des Heilsarmeebilds, eins von Max Frisch, mit dem er eine «Arbeitskameradschaft» hatte, wie er sagte, und schliesslich das Hochzeitsplakat von und für Varlin, als er seine Franca im Bergell ehelichte. Diese bunte Collage füllt nun als Kopie im so genannten Theaterraum eine Wand, und wer will, kann sich Dürrenmatts Wiederentdeckung an einer Videostation im Film von Charlotte Kerr ansehen, denn jahrelang war sie wieder mit Varlins Heilsarmee-Gemälde zugedeckt gewesen.

Installation mit den 140 Archivschachteln, die es im Literaturarchiv braucht, um allein das Konvolut «Stoffe» zu lagern. Links die Kassette der neuen Ausgabe, die der Diogenes-Verlag produziert. Foto: E. Caflisch

Das Spätwerk, das sind die Stoffe. Im Literaturarchiv umfassen sie 140 Archivschachteln, die nun von Ulrich Weber und Robert Probst für eine neue Edition beim Diogenes-Verlag  ediert werden. Der allerletzte Essay ist ein Gedankenspiel, Dürrenmatt erfindet ein Hirn, welches die Welt entdeckt, bleibt jedoch nicht im scharf Beobachteten, aber Fiktionalen stecken, sondern endet mit einem autobiographischen Schluss, nämlich einem Besuch der Mordstätten Auschwitz und Birkenau.

Das Hirn ist hörbar: Als Lesung im ersten Ausstellungsraum, der dramatisch abgedunkelt ist und ein Eintauchen in diese zugleich absurde und glasklare Apotheose aufs Denken der Welt ermöglicht. In einer Vitrine gibt es Dokumente dazu, die den Eindruck der Lesung vervollständigen.

Weitere Vitrinen im nächsten Raum geben Einblick in Dürrenmatts Schreiben von Prosatexten, angefangen mit Weihnachten, dem ersten Gedruckten von 1943. Nachdem er sich entschieden hatte, Schriftsteller zu werden, brach er das Philosophie-Studium ab und versuchte, seine junge Familie mit Schreiben über Wasser zu halten. Für den «Beobachter» schrieb er Kriminalromane um den Kommissär Bärlach, dann wandte er sich der Theaterschreiberei zu, schrieb ätzend böse Komödien, mit denen er Weltruhm erlangte, bis er bei der Inszenierung von Der Mitmacher am Zürcher Schauspielhaus scheiterte und in eine tiefe Krise geriet, die ihn zurück zur Prosa, zu den Stoffen brachte. Dieses Riesenwerk, das er dreibändig noch zu Lebzeiten publizierte, besteht aus autobiographischen Erinnerungen, aber auch Erzählungen wie beispielsweise Das Hirn und erkenntnistheoretischen Gedankengängen.

Seine Kindheit hinterliess Spuren im Gesamtwerk. Konolfingen, wo er geboren wurde, findet sich in manchen Figuren und Örtlichkeiten seiner Bücher und Theaterstücke wieder. Nachvollziehbar anhand des gezeichneten Ortsplans mit der «Geographie der Kindheit» (Erismann), der im Treppenaufgang des Strauhof hängt.

Kreuzigung aus der Mappe «Selbstgespräch», 1990. Lithografie. Schweiz. Eidgenossenschaft/Centre Dürrenmatt, Neuchâtel

Es gibt auch weitere Arbeiten auf Papier in der Ausstellung, beispielsweise ein Selbstporträt, oder die vierteilige Serie, in der er sich mit Religion, Sterben und Tod auseinandersetzt, Themen, die ihn nie losgelassen haben und die er in Die Physiker oder in Der Meteor bis zur Groteske variierte. Der Irrenarzt von Zahnd wurde zur Irrenärztin Frau Doktor von Zahnd, weil der Dramatiker seiner Lieblingsschauspielerin Therese Giehse damit einen heissen Wunsch erfüllte.

Friedrich Dürrenmatt mit Therese Giehse (links) und Maria Becker in der Kronenhalle bei der Premierenfeier zu «Frank der Fünfte», 1959; im Hintergrund Verleger Peter Schifferli. Foto: Comet Photo AG / ETH-Bibliothek Zürich

Dürrenmatt selbst hatte sehr früh Diabetes und seinen ersten Herzinfarkt mit knapp 45 Jahren, auch seine erste Frau, die Schauspielerin Lotti Geissler war kränkelnd und liess ihn 1983 als Witwer allein. Warum er mit Der Mitmacher scheiterte, hat viele Gründe. Nicht zuletzt, dass er gegen den Regisseur arbeitete, bis er Hausverbot bekam, was nicht durchgesetzt werden konnte, so dass Regisseur Andrzej Wajda kurz vor der Premiere das Handtuch warf. Zeichnungen von Hanny Fries illustrieren diese wenig fruchtbare Zusammenarbeit und das Schauspielhaus konnte aus seinem Archiv sogar ein Tondokument von den Proben beisteuern. Eine Überraschung auch für jene, die glaubten, ihren Dürrenmatt längst zu kennen.

Hanny Fries: Probenarbeit zu «Der Mitmacher» im Schauspielhaus. Bleistift auf Papier 1973. © Stiftung Righini-Fries Zürich

Geschichten erzählen auch die zahlreichen Fotos von Friedrich Dürrenmatt, welche einerseits in einer Porträtgalerie hängen, andererseits da und dort als Illustration in den Vitrinen liegen. Wunderbar und erfrischend neu, was die Schweizer Fotostiftung aus ihren Archiven zur Verfügung stellen konnte, oder auch die Serie von Daniel Schwartz, der den Dichter bei sich zuhause für das Du-Heft zum Siebzigsten Geburtstag fotografierte. Das Heft kam postum heraus. Nun sind diese und viele andere Bilder und Texte wiederum in einem Du-Heft publiziert: Es ist eine vertiefende Begleitpublikation der Strauhof-Ausstellung Kosmos Dürrenmatt und verweist auf die Neuausgabe der Stoffe bei Diogenes sowie auf die Biographie von Ulrich Weber, welche das fulminante Werk von Peter Rüedi erweitert und ergänzt.

Das kleine Kino im Museum Strauhof zeigt Ausschnitte aus dem Monumentalfilm «Porträt eines Planeten» von Charlotte Kerr. Foto: E. Caflisch

Im letzten Kabinett stehen vor einem grossen Bildschirm ein paar Stühle mit dem heute nötigen Abstand: Hier läuft der Film Porträt eines Planeten, den Charlotte Kerr von Friedrich Dürrenmatt drehte, in Auszügen. Entspannt und zugeneigt erzählt Dürrenmatt seine Geschichten. Mitunter lässt er sich inszenieren, beim Zeichnen beispielsweise, oder bei der erwähnten Wiederentdeckung seiner Collage. Übrigens heirateten die beiden am Tag nach Abschluss der Dreharbeiten.

Während der Dauer der Ausstellung wird ausserdem eine Monsterlesung von Dürrenmatts ganzem Werk stattfinden – täglich zwischen 13 und 15 Uhr im Strauhof, an der Winkelwiese, im Max Frisch Bad.

Bis 10. Januar 2021
Titelbild: Friedrich Dürrenmatt. Foto von Edouard Rieben, bearbeitet für die Ausstellung im Strauhof.
Alle Informationen zu Veranstaltungen und Öffnungszeiten der Ausstellung Kosmos Dürrenmatt gibt es hier.

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