StartseiteMagazinGesellschaftWie kann man die „Lebensqualität im Alter“ erforschen?

Wie kann man die „Lebensqualität im Alter“ erforschen?

Im Rahmen der Veranstaltung «Wissenschaftliches Schreiben in der Gerontologie – alterswissenschaftliche Fachtexte verfassen und bewerten» des  CAS «Gerontologie heute» der Uni Zürich wollte Seniorweb vom Ordinarius für Gerontologie, Prof. Dr. Mike Martin (Bild), erfahren, wie man die Lebensqualität im Alter erforscht.

Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist «Lebensqualität und gesundes Altern». Dazu drei Fragen: Was verstehen Sie unter «Lebensqualität (im Folgenden LQ)», was verstehen Sie unter «gesundem Altern» und wie hängt beides miteinander zusammen?

Prof. Martin: Ja, wo soll ich anfangen… Das Modell, das wir entwickelt haben in Zürich, ist ein Modell der funktionalen LQ. Danach ist die LQ dann am höchsten, wenn eine Person möglichst viele Möglichkeiten hat, die Dinge, die ihr wichtig sind und die zu ihren eigenen Zielen jeweils beitragen, auszuführen oder glaubt, sie ausführen zu können.

Inwiefern unterscheidet sich die «funktionale LQ» von anderen Modellen.

Ein Modell, das sehr gebräuchlich ist, besteht darin, dass man versucht, LQ anhand von Erkrankungen, also quasi indirekt zu messen. Die Annahme ist: Wer erkrankt oder beeinträchtigt ist, körperlich, geistig oder in irgendeiner anderen Form, dessen LQ kann ja gar nicht so hoch sein wie die eines Menschen, der nicht beeinträchtigt ist. Dieses Modell wird oft als «objektive LQ» bezeichnet.

Was ist an diesem Modell problematisch?

Der Nachteil bei dieser Art der LQ-Bestimmung ist, dass die eigene Einschätzung der LQ keine Rolle spielt. Deswegen gibt es eine andere typische Form der LQ-Bestimmung, die sogenannte subjektive LQ-Bestimmung, wo man Personen danach fragt, wie sie ihre eigene LQ einschätzen oder wie sie sich anfühlt. Dabei kann es sein, dass der andere Gesichtspunkt, nämlich die wirklich vorhandene Beeinträchtigung oder Krankheit nicht wiedergegeben wird. Das führt dazu, dass Aussagen nach diesen beiden Modellen sich scheinbar häufig widersprechen. Es kann nämlich sein, dass Personen, die schwere Beeinträchtigungen haben, sagen, ihre LQ sei hoch. Das ist in der wissenschaftlichen Literatur als Lebensqualitäts- oder Lebenszufriedenheitsparadox bekannt. Aus Sicht der gesamten Person ist das aber nicht paradox, kein Widerspruch. Für die meisten Leute ist es eigentlich so, dass sie etwa sagen: Ja, meine LQ ist hoch, auch wenn ich eine Erkrankung habe, aber weil ich dafür andere Dinge kann oder weiter tun kann, fühl ich mich gut. Es ist ihnen also gelungen, eine Um- oder Gesamtbewertung vorzunehmen. Das ist genau das, was wir bei der funktionalen LQ aufnehmen. Funktionale LQ kombiniert die subjektive und die objektive LQ.

Wie würden Sie die funktionale LQ umschreiben?

Es kommt darauf an, dass eine Person die Ziele verfolgen kann, die sie Grund hat wertzuschätzen. Dieses funktionale LQ-Modell ist praktisch identisch mit dem aktuellen Modell der Weltgesundheitsorganisation (WHO) des gesunden Alterns. Die sagen nämlich im Grunde genommen dasselbe: Eine Person altert dann gesund, wenn es ihr gelingt, das zu tun und zu sein, was sie Grund hat wertzuschätzen. Daraus kann man ersehen, das ist ziemlich genau das, was wir als funktionale LQ bezeichnen.

Können Sie «gesundes Altern» noch ein bisschen konkretisieren?

Zu einem gesunden Altern gehören alle Eigenschaften, Fertigkeiten, Fähigkeiten, biologische Ausstattungen, auch etwa Erkrankungen, die eine Person mitbringt. Die Gesamtheit dieses Zusammenspiels nennt man intrinsische Kapazität, die in Wechselwirkung mit der Umgebung steht.

Was sind mögliche Gründe, die einem erlauben, das zu tun und zu sein, was man wertschätzt? Sind das emotionale oder kognitive Gründe, sind das Charakterstrukturen, Sinnstrukturen oder eine Werteordnung, die man im Laufe seines Lebens entwickelt hat, und die einem die Gründe zur Wertschätzung liefern?

Dieses Modell selber ist gar noch nicht so weit entwickelt. Wenn man etwas wertschätzen und Unterschiede zwischen Dingen erkennen kann, merkt man auf kognitive Weise, was besser ist. Oder man ist emotional, mit dem Herzen bei der Sache, ist begeistert von etwas. Im besten Fall gelingt es einem, die meiste Zeit seines Lebens etwas zu haben, zu tun oder zu sein, was man Grund hat wertzuschätzen. Älterwerden ist ein dynamischer Prozess: Man ist unterschiedlichen sozialen Interaktionsmöglichkeiten ausgesetzt, nutzt sie unterschiedlich, lernt daraus und entwickelt Fähigkeiten,  um die LQ  zu entwickeln oder aufrecht zu erhalten. Deswegen sind in diesem Modell Bewertungsprozesse zentral, dass man also weiss: Was ist mir wichtig und warum. Wenn man «Bewertung» unter einem Entwicklungsgesichtspunkt ansieht, ist es auch wichtig zu unterscheiden, ob einem das Tätigsein selbst wichtig ist oder das Ergebnis des Tuns.

Zur Frage der Wertschätzung: Man kann ja spontan etwas wertschätzen oder aus relativ festen Grundüberzeugungen religiöser oder weltanschaulicher Art. Würden Sie sagen, es ist egal, ob jemand spontan, hedonistisch sich für das entscheidet, was ihm gefällt oder ob er den Entscheid aus bewährten, ein Leben lang eingeübten Überzeugungen fällt.

Wertschätzungen sind in der Regel eine Co-Konstruktion, also nicht etwas, was eine einzelne Person für sich, unabhängig von ihrer Umgebung, Kultur, Geschichte und anderem entwickelt, sondern sie sind kultur- und umgebungsgebunden. Zudem hat dasselbe Verhalten nicht immer dieselbe Bedeutung. Eine Körperbewegung beispielsweise kann unter religiösen und unter gesundheitlichen Gesichtspunkten anderes bedeuten. Daraus ergibt sich zum Beispiel bei der Gesundheit, dass sie nicht nur die Eigenschaft einer Person ist, sondern es ist die Folge einer Co-Konstruktion zwischen Person und Umgebung und zwischen Person und wahrgenommener Umgebung.

Könnte man da nicht auch sagen, um mit Grund wertschätzen zu können, muss man Werthaltungen gewissermassen in einem Bildungsprozess entwickelt haben, also dass man sich schon in jungen Jahren überlegt, ja, was macht für mich Sinn, was wertschätze ich, wozu sage ich ja, wozu nein. Wenn man nun im Alter mit plötzlich auftretenden schwierigen Situationen konfrontiert ist, weiss man, woran man sich halten kann, nämlich an die im Laufe des bisherigen Lebens entwickelte Wertestruktur.

Das ist ein interessanter Punkt, denn Bildung ist, so gesehen, wirklich eine gesundheitsförderliche Intervention. Bildung verstanden nicht als Fertigkeitsvermittlung, also dass ich etwa lerne, wie ich einen Computer bedienen kann, sondern im Sinne von Persönlichkeitsbildung oder auch Probehandeln und Reflektieren, so dass ich erproben kann, wie es mir geht, wie es sich anfühlt, wie ich oder andere auf etwas, was ich tue, reagieren. Aus dieser Reflexion heraus finde ich im besten Fall, was mir als Person liegt und wofür ich mich in meiner «Welt» auch begeistern und engagieren kann. Es ist ja so: Man kann über noch so viele Fähigkeiten verfügen und Gelegenheiten, sie einzusetzen – wenn es einem aber nicht gelingt herauszufinden, was man wertschätzt und wofür man sich einsetzen will, dann passiert nichts. Was wir tun, ist in der Regel intentional, das heisst, wir tun es mit einer bestimmten Absicht…besser zu werden, jemand anderem zu gefallen, etwas zu einer Gemeinschaft beizutragen… wir sind nicht wie ein Computerprogramm, das etwas in einer bestimmten, programmierten Routine abarbeitet.

Könnte man sagen: Die Kunst des Lebens und des Sterbens ist abhängig von dem, was mich trägt, also von sinnstiftenden Grundüberzeugungen.

Ich finde schon, dass man in der Forschung über das gesunde Altern sich stärker konzentrieren könnte auf das, was zur Sinnstiftung, zur Sinnfindung beiträgt, als sich bloss auf das jeweils momentane Wohlbefinden zu fokussieren und auf das, was aufgrund von Beobachtungen zu diesem Wohlbefinden beiträgt.

Zum Allgemeinwissen gehört ja, dass gesunde Ernährung, genügend Bewegung, soziale Kontakte und eine sinnvolle Alltagsgestaltung zu einer guten Lebensqualität im Alter beitragen. Stimmen Sie dem zu?

Naja, wenn wir wissen, was tendenziell, im Allgemeinen zu einer guten Lebensqualität beiträgt, wissen wir noch nicht, was bei einer einzelnen Person in einer konkreten Lebenssituation zu Erhaltung oder Verbesserung der Lebensqualität beiträgt. Das zu erforschen und die jeweils individuell passenden Interventionen zur Erhaltung der Lebensqualität zu finden, ist die grosse Herausforderung … und das ist weitgehend unbekannt.

Zum Schluss: Das Forschungsfeld „Lebensqualität im Alter“ ist ja immens. Wie können Sie dabei als Forscher Ruhe und Übersicht bewahren?

Man kann ganz allgemein gesprochen, LQ auf zwei Arten anschauen: 1. LQ als relativ stabile, situationsübergreifende Eigenschaft einer Person. 2. Man kann LQ aber auch in ein Situationsmodell übersetzen. Also woran würde man jetzt bei Ihnen merken, ob Sie gerade jetzt eine hohe Lebensqualität haben oder nicht. So gefragt, könnte man LQ versuchen zu erfassen unabhängig von den Eigenschaften einer Person. In diesem Ansatz möchte ich möglichst viele Momente entdecken, wo LQ zustande kommt, um allenfalls eine Rückmeldung zu geben, um herauszufinden, wie häufig sowas überhaupt vorkommt, welche Effekte das hat, wenn es vorkommt…und dann kann man allenfalls etwas an der Umgebung oder der Wahrnehmung der Umgebung ändern, um die LQ einer bestimmten Person zu erhöhen. Das ist ein ganz neues Gebiet, und das macht die Sache interessant, denn das ist eine Erfassung von LQ einer einzelnen Person in dem Kontext, wenn sie gerade stattfindet. Was mich nicht ruhig schlafen lässt, sondern was mich drängt zu erforschen ist die praktische Frage: Was erhöht im Einzelfall in der konkreten Situation potentiell die LQ? Was wir bisher mit dem meisten Forschungsaufwand machen, ist unabhängig von der konkreten Situation herauszufinden, was Personen voneinander unterscheidet. Und dann nehmen wir diese Ergebnisse und versuchen daraus für Einzelpersonen eine Empfehlung abzuleiten. Das ist die Forschung, die wir mit 95% der Mittel betreiben…und sie ist interessant, aber sie ist von vorneherein methodisch ungeeignet, diese praktische Frage zu beantworten: Was hilft denn bei der einzelnen Person? Mein Anliegen ist dafür zu sorgen, dass es eine kritische Masse von Forschenden gibt, die das erkennt und sagt: Wenn das die praktische Frage ist, dann ist die Arbeit mit einem Situationsmodell eine wichtige Methode zur Erforschung der LQ.


Prof. Dr. Mike Martin: Ordinarius für Gerontopsychologie, Direktor des Zentrums für Gerontologie, Ko-Direktor UFSP «Dynamik gesunden Alterns», Ko- Direktor Kompetenzzentrum für Plastizitätsforschung (INAPIC). Arbeitsschwerpunkte: Lebensqualität und Gesundheit im Alter, kognitive und soziale Entwicklung im Alter, Längsschnittforschung.

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