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Zwei Blickwinkel auf eine Pandemie

Die Schweiz und Deutschland – das haben die jüngsten politischen Verhandlungen gezeigt – sprechen nicht immer dieselbe Sprache. Gilt das auch im Umgang mit der Coronapandemie? Seniorweb befragte den Leiter der Task Force COVID-19 der Deutschen Gesellschaft für Laboratoriumsmedizin, den Marburger Professor und Immunologen Harald Renz.

Seniorweb: «Wir können Corona!» sagte unser Gesundheitsminister im Bundesrat vor gut einem Jahr, als nach einem Lockdown wieder etwas Normalität einkehrte. Es kam dann anders. Heute herrscht deshalb mehr Skepsis – und vielleicht auch mehr Vorsicht. Wie beurteilen Sie die Lage? «Kann» Deutschland aktuell Corona?

Harald Renz: Das kommt auf die Sichtweise an. Die dritte Welle ist am Abklingen. Man könnte sich also in Deutschland zurücklehnen und sagen «wir haben es mal wieder gut hingekriegt». Das ist aber nicht der Fall, denn ehrlich gesagt hat sich unser Land hier nicht als «Musterländle» präsentiert. Wir waren schlecht vorbereitet auf eine Pandemie, wir haben streckenweise die gesamte Situation immer wieder unterschätzt, zögerlich reagiert, waren nicht konsequent genug und haben vor allen Dingen die Balance zwischen Einschränkungen und einem einigermassen normalen Leben streckenweise nicht hinbekommen.

Ich kann nur hoffen, dass es im Nachhinein eine gründliche Aufarbeitung gibt, organisatorische, strukturelle Konsequenzen gezogen werden und ein präventives Pandemiemanagement aufgebaut wird, was diesen Namen auch verdient.

Die Schweiz ist ein föderalistischer Staat. Das heisst, die einzelnen Kantone haben grosse Entscheidungsbefugnisse. Das führte dazu, dass im letzten Sommer, nach einem «von oben», also vom Bundesrat verfügten Lockdown, jeder Kanton über allfällige Lockerungen beschliessen konnte. Was gar nicht funktionierte. Seitdem hat der Bundesrat das Heft wieder fest in der Hand. Wie sieht das bei Ihnen aus? Macht da jedes Bundesland seine eigene Coronapolitik?

Bei uns ist es noch «föderaler» als bei Ihnen in der Schweiz: Wir haben 450 Gesundheitsämter und gemäss Infektionsschutzgesetz liegt die Kompetenz bei diesen 450 Gesundheitsämtern. Die haben allesamt einen großen individuellen Gestaltungsspielraum. Der Bund und die Länder geben dafür nur den mehr oder weniger engen Rahmen und das Korsett vor. Diese Gemengelage verunsichert große Teile der Bevölkerung und häufig kommen die Entscheidungen zu zögerlich; siehe die Warnungen unserer Intensivmediziner vor der dritten Welle und den Engpässen in der Intensivmedizin.

In der Schweiz gab es von Pandemiebeginn an unter den Immunologen und Epidemiologen zwei Lager. Die Schwarzmaler und die Optimisten, vereinfacht gesagt. Recht bekommen haben bisher beide Seiten ein wenig: Zwar blieben Horrorszenarien wie in Norditalien bei uns zum Glück aus, aber ganz von der Bildfläche verschwinden will das Virus trotz Impfkampagnen und Einschränkungen im täglichen Leben doch nicht. Sehen Sie einen Mittelweg?

In der ersten Phase der Pandemie im Jahre 2020 war das Ziel, die Hoch-Risiko-Menschen zu schützen und zu vermeiden, dass es zu einem intensivmedizinischen Kollaps kommt. Das ist auch weitestgehend gelungen. Dies war in der ersten Phase der Pandemiebewältigung zentral gesteuert mit Massnahmen des Bundes, die auf die Länder übertragen wurden. Dann, in der zweiten Phase, sahen wir die Regionalisierung der Massnahmen, also ein Auseinandertriften unserer 16 Bundesländer. In der dritten Phase wurde dann ein sehr hoher Preis bezahlt mit dem, ich nenne es einmal «nationalen Lockdown».

Der Allergologe und Immunologe Professor Harald Renz.

Ich bin angetan vom Graubündener Weg, den ich sehr genau verfolgt habe. Dort hat sich nämlich gezeigt, dass Flächentests zur Infektionsprophylaxe dienlich sind und ein breites und konsequentes und wiederholtes Testen letztlich die Möglichkeit eröffnet, ein, je nach Umstand, einigermaßen normales Alltags-und Sozialleben zu führen. Verkürzt gesagt: Es gibt Strategien, die einen guten Kompromiss darstellen.

Bis eine für die Bekämpfung der Pandemie relevante Impfquote erreicht wird, dauert es. Dazu kommen immer neue Mutationen des Virus, ganz neu eine vietnamesische Variante. Ist da die Impfung immer noch die Ultima Ratio, oder müsste nicht auch ein medikamentöser Weg verfolgt werden?

Letztlich wurden viele Therapiewege in klinischen Studien ausprobiert, aber kaum etwas ist davon übrig geblieben, um eine wirkungsvolle spezifische Virusbekämpfung durchzuführen. Es bleibt im Prinzip bei der Prophylaxe, also der Impfstrategie. Es ist ein fantastisches Ergebnis, dass es gelungen ist, in so kurzer Zeit so viele Impfstoffe mit gutem Wirkprofil und tolerablen Nebenwirkungen zu entwickeln, klinisch zu prüfen und letztlich in die Massenproduktion und Anwendung zu bringen.

Allerdings dürfen wir nicht impfmüde werden! Herdenimmuniät ist ein hehres Ziel, setzt viel Überzeugungsarbeit und Engagement in der Gesamtbevölkerung voraus und ist etwas, was wir über lange, lange Jahre aufrecht erhalten müssen, also auch mit Nachimpfungen, vielleicht so, wie wir das von der jährlichen Grippeschutzimpfung her gewohnt sind.

Fakten widersprechen sich auch. Da wird einerseits auf die noch ungenügende Durchimpfungsquote verwiesen, andererseits will Spanien den Kreuzfahrt-Schiffen in diesem Sommer wieder erlauben, die touristischen Hotspots zu fluten. Wie beurteilen Sie die Lage im Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen Interessen und medizinischen Vorgaben – und dem Wunsch der Bevölkerung, endlich mal wieder unbeschwert feiern und reisen zu können?

Die neue Formel lautet: Geimpft, getestet, genesen. Will sagen, wer genesen ist, ist für circa sechs Monate geschützt durch die eigene Immunantwort. Danach sollte geimpft werden. Alle zugelassenen Impfstoffe schützen relativ gut vor COVID-19-Erkrankung, insbesondere vor schweren Verläufen. Auch hier gehen wir allerdings davon aus, dass der Impfschutz nicht auf Dauer ist. Man sollte sich auf Kampagnen zur Nachimpfung einstellen, ob dies einmal jährlich sein wird, wie beispielsweise bei der Grippeimpfung, wird man sehen. Ferner muss bedacht werden, dass möglicherweise neue Mutanten auftreten können, die durch die bisherigen Impfstoffe nicht optimal abgedeckt sind, so dass auch hier mit neuen verbesserten Impfstoffen Nachimpfungen durchgeführt werden müssten.

Wie lange wohl hat das Corona-Virus die Welt noch im Griff? (pixabay/Lothar Dietrich)

Also, auch das Impfen wird nicht wegzudenken sein. Und des Weiteren werden wir uns darauf einstellen müssen, dass all diejenigen, die entweder erkrankt waren, noch aus irgendwelchen Gründen über einen Impfschutz verfügen, getestet werden müssen. Dazu zählt insbesondere die junge Generation, solange keine Impfstoffe für die ganz Kleinen zur Verfügung stehen. Der Dreiklang geimpft, getestet, genesen ist das Licht am Ende des Tunnels.

Mit Post-akut-Covid und Long-Covid kommen neue Probleme auf uns zu. Befassen Sie sich als Immunologe auch mit solchen Spätfolgen? Lassen sich diese Komplikationen einer Covid-Erkrankung in (Prozent-)Zahlen quantifizieren? Ist es, böse gefragt, vielleicht sogar so, dass Long Covid zum neuen Burnout wird?

Erst jetzt entwickelt sich ein Überblick über die (Spät-) Folgen einer durchgemachten COVID-Erkrankung. Erst jetzt gibt es erste Erfahrungen nach sechs bis zwölf Monaten einer durchgemachten COVID-Erkrankung. Auch hier ist eine enorme Dynamik. Erinnern wir uns an den Anfang der Pandemie, damals haben wir von einer «Lungenentzündung» gesprochen. Heute wissen wir, dass COVID eine Systemerkrankung ist, die insbesondere die Blutgefässe und damit alle mit Blut versorgten Organe betreffen können. Hierzu gehören das Gehirn, der Herzmuskel, Lunge, Leber und Nieren.

Und so ist es jetzt auch mit den Langzeitfolgen. Wie es zu diesen Langzeitfolgen kommt, ist nicht klar, aber die Langzeitfolgen zeigen sich insbesondere an der Gehirnfunktion. Hier stehen neben der Müdigkeit, wie wir sie auch von Depressionen und Burnout kennen, der Verlust ganz selektiver Fähigkeiten im Raum. Die Grundschullehrerin kann plötzlich nicht mehr Englisch sprechen, der junge Mann kann die Gangschaltung im Auto nicht mehr bedienen und so weiter. Das sind Beispiele, die uns Kliniker erzählen und berichten. Wie es dazu kommt, ist nach wie vor unklar. Eine interessante Hypothese verbindet die Spätfolgen mit Störungen der Immunantwort, wie wir sie bei Autoimmunerkrankungen kennen. Richtig gute Therapieansätze gibt es hierzu aber auch immer noch nicht. Hier besteht ein enormer Forschungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf gute therapeutische Ansätze.

Ob in Deutschland oder der Schweiz, alles freut sich auf einen möglichst entspannten Sommer ohne grosse Einschränkungen. War schon letztes Jahr so. Bis die zweite Welle kam. Wie kann eine nächste Welle im kommenden Herbst verhindert werden?

Was im Herbst/Winter passieren wird, ist unklar. Derzeit stehen verschiedene Szenarien im Raum: Zum einen könnte es gelingen, eine sogenannte Herdenimmunität aufzubauen, und vielleicht können wir die Bevölkerung auch wieder überzeugen, neben der Corona Impfung sich in diesem Herbst gegen Grippe impfen zu lassen. Dann hätte man einen Doppelschutz in der Bevölkerung. Andererseits steht im Raum, dass es eben nicht gelingt, die Herdenimmunität zu erreichen (dazu müssten 80 Prozent der Bevölkerung geimpft sein, damit mindestens 70 Prozent einen immunologischen Schutz haben, denn es reagiert ja nicht jeder gleichermassen gut auf die Impfung). Wir erleben ja eine gewisse Impfmüdigkeit.

Und es könnte sein, dass neue Mutationen auftreten, die sich schneller und aggressiver verbreiten als die bisher bekannten und auch nicht optimal gedeckt werden durch den Impfschutz. Und dann müssen wir natürlich auch den «menschlichen Faktor» berücksichtigen, nämlich eine gewisse Trägheit und Müdigkeit in der Bevölkerung, was das Einhalten der allgemeinen Schutzmassnahmen anbelangt. Das werden wir aber schon beobachten können nach den Sommerferien, und um es mit unseren Altbundestrainern zu sagen: Dann schauen wir mal…


Harald Renz zählt international zu den führenden Allergologen. Er beschäftigt sich mit Entzündungsvorgängen und mit der Entwicklung von neuen Therapien. Hierzu hat er zwei Biotech-Unternehmen in Deutschland mitgegründet. Er war sechs Jahre Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und Klinische Immunologie und hat seit über 20 Jahren in Marburg und Giessen einen Lehrstuhl für Laboratoriumsmedizin. Seine eigene Forschung fokussiert seit zwei Jahren auf die Diagnostik und Entzündungsvorgänge bei COVID-19. Er leitet die Task Force COVID-19 der Deutschen Gesellschaft für Laboratoriumsmedizin.

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1 Kommentar

  1. Die Schulmediziner empfehlen ein Durchimpfen über Wochen, Monate, Jahre – je nach Auftraggeber. Dabei übersehen sie allerdings, dass die jährliche Grippewelle am Abklingen ist, so wie die letzten Jahrzehnte auch. Aber immer tüchtig weiter impfen bis dass das Ziel erreicht ist. Jeder kennt es ……

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