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Erziehen als Gratwandern

Der Israeli Nir Bergman schildert im Spielfilm «Here we are» die Beziehung eines alleinerziehenden Vaters mit seinem autistischen Sohn, was zu Grundsatzfragen der Erziehung anregt.

Aharon (Shai Avivi) ist Mitte fünfzig; nach der Scheidung von Tamara steht im Zentrum seines Lebens der autistische Sohn Uri (Noam Imber), um den er sich Tag und Nacht kümmert. Obwohl dieser fast erwachsen ist, behütet jener ihn, will ihn noch einige Zeit in seinem eigenen Rhythmus belassen und fängt geduldig seine emotionalen Reaktionen ab. Bei der Frage einer Einweisung in ein spezialisiertes Heim spitzt sich ein Konflikt zu, zu dem auch seine Ex-Frau, sein Bruder und die Behörden einbezogen sind. Dabei wird immer deutlicher, was den Vater in seine fragwürdige Abhängigkeit vom Sohn bringt. Eine gemeinsame Reise durch das Land bringt Gründe ihres ungewöhnlichen Zusammenlebens an die Oberfläche.

«Here we are» (Hier sind wir) scheint am Anfang gradlinig die Geschichte einer sympathischen Vater-Sohn-Beziehung zu erzählen, wie es Uberto Pasolini auf berührende Weise in «Nowhere Special» geschaffen hat, der ebenfalls aktuell im Kino läuft. Doch der Film von Nir Bergman geht in eine andere Richtung: Er zeigt, wenn man diesen familiären Mikrokosmos hinterfragt, etwas Allgemeingültiges jeder Erziehung: eine eigentliche Gratwanderung.


Wer hat wohl den Fisch gefangen?

Grundsätzliches zur Erziehung

Ist nicht in jedem Akt des Erziehens, so lässt uns der Film fragen, offenbar oder versteckt die Gefahr, dass beim Helfen, Unterstützen und Fördern die eigenen Bedürfnisse der Erzieher*innen vernachlässigt werden? Kann Erziehen in extremen Fällen nicht zur Ersatzhandlung mutieren? Kann Erziehung, ähnlich wie Sozialarbeit, sich zum Helfersyndrom wandeln? Kann sich in der Konzentration auf das Kind der Erziehungsprozess zur Flucht vor sich selbst und damit zur Selbstaufgabe und zum Verdrängen eigener Bedürfnisse entwickeln? Auf diese und ähnliche Fragen gibt der Film keine Antworten; er zeigt lediglich Szenen, in denen erzieherische Handlungen in den verschiedensten Formen ablaufen: als Konflikt- und Problemlösen, als existenzielle Gratwanderung, bei der es Highlights, aber auch Abstürze geben kann. Diese Fragen sind nicht neu; die Anti-Pädagogik hat mit Ekkehard von Braunmühl, Alice Miller und Katharina Rutschky diese Themen seit 1975 wissenschaftlich aufgearbeitet.

Höhepunkte und Abstürze

An vielen Stellen im Film kann man, wie bei einem Mosaik, Elemente solcher Fragen und Antworten finden und zusammensetzen. Drei Szenen stehen für solche Wendepunkte, Höhepunkte oder Abstürze. Die erste ist die dramatische Auseinandersetzung von Uri mit Aharon auf dem Bahnsteig. Die zweite zeigt Uri beim Tanzen in der Disco, zuerst allein, am Schluss mit dem Vater. Die dritte führt uns an den Strand, wo Aharon auf den Verkäufer einschlägt, weil dieser Uri wegen eines nicht bezahlten Eises sanktioniert. Diese Szenen zu deuten und zu hinterfragen, lohnt sich. Ich will es hier nicht tun; denn jedes Erziehen ist verschieden, hat individuelle biografische und umweltbedingte Hintergründe. Die Antworten fallen bei jedem und jeder anders aus.

Musik zur Vertiefung

Über längere Passagen wird Uri gezeigt, wie er auf seinem Tablet Chaplins Film «The Kid» schaut und in dessen einleitender und wiederkehrenden Melodie schwelgt. Eine weitere mehrmals wiederholte Melodie im Film stammt aus dem Film «Gloria» von Sebastián Lelio, in welchem eine ältere Frau noch einmal zu leben und zu lieben beginnt, hier als schöne Parallele zu Uris Entwicklung.

Die nachfolgenden Texte von an der Produktion des Films Beteiligten behandeln die Themen des Films nochmals aus verschiedenen Perspektiven und weiten so individuelle Geschichte zu einer allgemeingültigen aus.

Erziehen als harter Kampf

Anmerkungen der Drehbuchautorin Dana Idisis

Als wir Kinder waren, sahen meine Brüder und ich nur Charlie-Chaplin-Filme. Wir konnten zunächst nicht verstehen, was daran so interessant ist, doch nach ein paar Minuten waren wir alle von ihm gefesselt, und er wurde unser Held. Jetzt sind wir erwachsen, von zuhause ausgezogen und haben eigene Wohnungen mit eigenem Fernsehen. Nur mein kleiner Bruder Guy schaut noch immer Chaplin-Filme, am liebsten «The Kid»: mit der berührenden Beziehung zwischen Chaplins berühmtem Tramp und einem Kind, das er adoptiert, oder besser, das ihn adoptiert hat. Es ist kein Zufall, dass Guy an diesem Film hängt, denn dieser beschreibt indirekt Guys persönliche und spezielle Situation. Denn bei meinem Mann wurde Autismus diagnostiziert; nach der Diagnose fühlte sich mein Vater so, wie Aharon im Film, als hätte er ein Kind, das er umsorgen muss. Die Beziehung zwischen meinem Bruder und meinem Vater ist aussergewöhnlich wie jene von Uri und Aharon. Sie verstehen sich ohne Worte und haben eine lustige und symbiotische Beziehung, welche sie unter einer Blase gegen die Welt beschützt. Sie sind als Duo und einzeln meine Favoriten. Ich schrieb im Drehbuch eigentlich über sie, ihre einzigartige Beziehung zur Welt und ihre Angst, die über ihnen und auch mir schwebt. Was wird passieren, wenn der Moment kommt, in dem sie gezwungen werden, sich zu trennen? Es ist mir wichtig, zu betonen, dass «Here we are» kein Film über Autismus ist, kein Film über den Vater eines autistischen Kindes oder die Herausforderungen eines Mannes mit einem behinderten Kind. Es ist ein Film über einen Vater und einen Sohn und über die unvermeidliche Trennung zwischen Eltern und Kindern.


Gemeinsam glücklich in der Disco

… des Regisseurs Nir Bergman

Ich dachte beim Ausarbeiten der Filmfiguren an die Scheuklappen bei den Pferden, diese Abdeckungen, die über ihre Augen gelegt werden, um zu verhindern, dass sie auf die Seite schauen und eventuell vom Weg abweichen. So habe ich Aharon wahrgenommen, blind für seinen eigenen Weg, sein eigenes Leben. Um die Bedürfnisse seines autistischen Sohnes zu erfüllen, ist er vor allem darauf eingestellt, auf ihn aufzupassen und ihn vor Gefahren zu bewahren. Wie schwer muss es aber sein, im eigenen Leben den Weg zu sehen, der ausserhalb der Scheuklappen existiert? Verbergen Scheuklappen nicht zusätzlich Aharohns Vergangenheit, nach innen zu blicken, sich seinen Fehlern zu stellen und mit der eigenen Zerbrechlichkeit zu leben? Ich bin gespannt, inwieweit er sich seiner eigenen Realität stellen kann. Während ihrer gemeinsamen Reise werden neue Wahrheiten über sein Leben erfahrbar. Vielleicht merkt er sogar, dass er sich hinter seinem Sohn vor der Welt versteckt, während er versucht, seinen Sohn zu beschützen. – Setzen wir uns als Eltern, so frage ich mich, nicht alle gelegentlich Scheuklappen auf? Während unsere Kinder aufwachsen und unabhängig werden, bleiben autistische Kinder weiterhin verletzlich und exponiert. Es fällt einem schwer, dass auch sie erwachsen sind.


Mit dem Fahrrad durch Israel und zu sich

… der Kinderpsychiaterin Caroline Eliacheff

Wer weiss es, was für ein Kind, einen Vater oder eine Mutter das Beste ist? Wenn das Kind eine Behinderung hat und die Eltern damit nicht klarkommen, dann sind wir beim Thema dieses Films. Dieses Kind ist das genaue Gegenteil von Chaplins «The Kind», den Uri gerne sieht. Er ist so gross wie das Kind klein, so ungeschickt wie das Kind schlau, so passiv wie das Kind aktiv. Vielleicht haben die beiden Kinder eine ähnliche Vater-Sohn-Beziehung: Liebe und Gefühle haben sie verbunden, im Guten wie im Schlechten. In «Here we are», anders als meist im Alltag, ist es hier der Vater, der alles aufgibt, um sich ganz seinem Sohn zu widmen. Sein Verzicht, der in mancher Hinsicht bewundernswert ist, erweist sich letztlich als eine Form der absoluten Kontrolle: Der Vater weiss alles über seinen Sohn, nur er kann den Jungen beruhigen, wenn er überwältigt wird von seinen Stereotypien und Phobien, der Junge kann nur mit Vaters Hilfe denken, niemand sonst vermag, die symbiotische Beziehung durchbrechen. Die Mutter tritt nur auf, um ihren Willen durchzusetzen, um ihren Sohn endlich zu sozialisieren und in eine seinen Bedürfnissen angepassten Einrichtung unterzubringen. Um diesem schicksalhaften Moment, dem Entscheid einer Heimeinweisung, zu entkommen, nimmt der Vater den Sohn mit auf eine Reise, eine Flucht, die zur Trennung von der Mutter führt, aber auch ihre Beziehung verändert. – Der einfühlsame und gut gespielte Film wird wohl alle Eltern berühren, egal ob ihre Kinder behindert sind oder nicht. Die Behinderung verschärft das allgemeine emotionale Dilemma: Kann eine Institution nützlicher sein als die Liebe der Eltern? Ohne als Predigt aufzuwarten, ist es bemerkenswert, dass die Antwort auf diese Frage dem Kind überlassen wird, der tatsächlich schon ein Junger erwachsen sein kann, und am Schluss der Vater nachgibt.

Titelbild: Gemeinsame glückliche Momente

Regie: Nir Bergman, Produktion: 2020, Länge: 104 min, Verleih: filmcoopi

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