Von 1872 bis 1994 gab es in Deutschland den §175, mit dem schwule Männer ins Gefängnis kamen. Sebastian Meise hat in seinem wuchtigen, elegischen Drama «Grosse Freiheit» mit zwei aussergewöhnlichen Schauspielern den Opfern dieser Zeit ein würdiges Denkmal gesetzt.

Deutschland 1968: Eine Zeit der Proteste und des Aufbruchs – nicht so für Hans. Er wandert hinter Gitter, denn er wurde beim Sex mit einem Mann erwischt. Doch er lässt sich von niemandem sagen, wie er zu leben, und schon gar nicht, wen er zu lieben hat. Im Gefängnis begegnet er Viktor, die beiden waren bereits früher Zellengenossen. Viktor verbüsst eine Strafe wegen eines aus Eifersucht begangenen Totschlags, Hans wegen des berüchtigten §175, der Sex zwischen Männern unter Strafe stellt. Aus anfänglicher Abneigung entwickelt sich zwischen Hans und Viktor im Laufe der Zeit eine intensive Verbindung voller Respekt, Empathie und vielleicht sogar so etwas wie Liebe.

Während draussen Studentenunruhen toben und die Bundesrepublik insgesamt liberaler wird, kommt Hans, nicht zum ersten Mal, für zwei Jahre ins Gefängnis. Auf einer öffentlichen Toilette hatte er Sex mit einem Mann und war dabei gefilmt worden. «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» lautete der Titel eines Films, der Rosa von Praunheim 1971 berühmt machte und mit dem die 68er-Politik befeuert wurde. Zwei Jahre zuvor, am 1. September 1969, wurde die Liberalisierung des 175er-Paragrafen, abfällig «Schwulenparagraf» genannt, zwar eingeleitet, doch nicht umgesetzt.

Genau zu diesem Zeitpunkt beginnt auch Sebastian Meises berührender und aufwühlender Gefängnisfilm «Grosse Freiheit», der eine Situation beschreibt, die in Tat und Wahrheit pervers ist. Er spielt fast ausschliesslich im Gefängnis, zwischen kargen Zellen, Speisesaal und Werkstatt, die selbst im Laufe der Jahrzehnte immer gleich aussehen. Als würde die Zeit stillstehen, verändert sich auch die einheitliche Gefängniskleidung zwischen 1945 und 1969 kaum.

Hans Hofmann (exzellent verkörpert von Franz Rogowski)

Ein deutsches Drama

Auch die beiden Hauptdarsteller Franz Rogowski (als Hans) und Georg Friedrich (als Viktor) altern nur minimal. Friedrichs Haare bleiben dünn wie eh und je, ein paar Falten deuten den Gang der Zeit an. Allein bei Rogowski wird mit Frisur und Bart nachgeholfen und mit einem Schnauz angedeutet, wie viele Jahre seines Lebens er im Gefängnis verbracht hat. Erzählt wird die Geschichte vom Regisseur und Drehbuchautor Sebastian Meise und seinem Mitautor Thomas Reider auf verschiedenen Zeitebenen. Immer wieder springt die Handlung zwischen dem Gefängnisalltag von Hans unmittelbar nach der Kapitulation der Nationalsozialisten 1945 und den Jahren 1957 und 1968 hin und her. Die Brutalität der Wärter, die Ablehnung und der Hohn von den Mitinsassen bleiben aber über die Jahrzehnte der Inhaftierung unter dem Paragrafen die gleichen.

Mehr als hunderttausend Männer wurden nach §175 des Strafgesetzes zwischen seiner Einführung im Januar 1872 und seiner endgültigen Streichung im Juni 1994 verurteilt. Im Nationalsozialismus diente der Paragraf als Rechtfertigung für die systematische Verfolgung und Inhaftierung von Homosexuellen. Mindestens 5’000 wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, mehrere Tausend von den Nazis ermordet. Sebastian Meise leistet mit seinem Film einen Beitrag, den Geschädigten im Nachhinein Gehör zu verschaffen.

Viktor Bex (wunderbar gespielt von Georg Friedrich)

Verwandt mit einem grossen Aussenseiter

Auch wenn die Zeit vergeht, verändern sich die Verhältnisse kaum, lehnt die Gesellschaft Homosexuelle weiter ab, verfolgt sie, sperrt sie ein. Mit dieser Situation will sich Hans nicht abfinden, der nie lange Strafen absitzt, aber immer wieder neu für seine Liebe zu Männern verhaftet, verurteilt und eingesperrt wird. Sein Verhältnis zu Viktor bleibt lange platonisch. Als dieser ihn tätowiert, um dessen KZ-Nummer zu übertünchen, ist das eine erste Berührung, deren Fortsetzung noch lange auf sich warten lässt.

In manchen Szenen erinnert der Film an die grossartigen und polemischen Texte des französischen Autors Jean Genet, dessen autobiografisch gefärbten Romane, Dramen, Gedichte und Essays, die durch ihre sinnliche Sprache auffallen, meist unter Zuhältern, Dieben, Homosexuellen und andere Randexistenzen spielen. Vor allem der Schluss des Films im «Club Grosse Freiheit», mit dem Chanson «L’amour, l’amour, l’amour» von Marcel Mouloudji, hat etwas von der Ambiance, die wir aus den Werken des Franzosen kennen.

Bei der TV-Übertragung der Mondlandung

Glückliche Gesten, gewaltsame Rituale

Im Mittelpunkt des Films steht das Überleben von Hans im Gefängnis und seine ständige Auseinandersetzung mit der ungerechten Haftstrafe. Nur ganz selten schafft er es, auch innerhalb der Gefängnismauern Freundschaft, Zärtlichkeit und Liebe zu erleben. Trotz mühsamer Vorbereitung dauern solche Erfahrungen oft nur Momente. Formal dominieren für diese seelische Stimmung Grau, Dunkelblau und Schwarz. Über weite Strecken erleben wir den Film als trauriges, düsteres, tragisches Drama. Umso mehr stechen die wenigen Lichtblicke als besonders starke Szenen hervor: die Erinnerung an einen Ausflug mit einem Freund an den See, eine kurze Berührung «en passant» mit einem andern Häftling oder die Solidarität in Form von Zigaretten und Streichhölzern. Entgegen dem Ersteindruck entdeckten wir Zuschauer*innen mit der Zeit, wenn wir uns in die Story einliessen, eine Fülle von Szenen der Menschlichkeit, Freundschaft, Zärtlichkeit und der Liebe bei den Gefangenen und zahllose Szenen der Herzlosigkeit, Sturheit, Brutalität und Unmenschlichkeit beim Gefängnispersonal.

Oskar und Hans, das Liebespaar

«Grosse Freiheit», ausgezeichnet…

 Regisseur Sebastian Meise klagt nicht nur den deutschen §175 an. Er zeigt auch, dass sich Gefühle und Liebe nicht einfach einsperren lassen und erzählt von einem Mann mit unzerbrechlichem Lebensmut. Die atemberaubende Performance der beiden Hauptdarsteller Franz Rogowski und Georg Friedrich, die herausragende Bildgestaltung von Crystel Fournier und die wenigen Musikklänge machen «Grosse Freiheit» zu einem berührenden und aufwühlenden Kinoerlebnis. – Georg Friedrich erhielt beim Filmfestival in Sarajewo den Preis als bester Schauspieler, der Film wurde in Cannes in der Sektion «Un Certain Regard» mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet, und Österreich schickt die Produktion für den Academy Award ins Rennen für den besten nicht-englischsprachigen Film nach Amerika.

…und verglichen mit andern Filmen

 Drei Filme drängen sich mir auf, um mit der «Grossen Freiheit» verglichen zu werden:

«Deux» von Filippo Meneghetti, in dem zwei lesbische Frauen um die Siebzig für ihre Liebe kämpften, von der Zukunft träumen, doch wegen eines Schicksalsschlages ihr Leben neu ausrichten müssen.

«Supernova» von Harry Macqueen, der die Geschichte von zwei homosexuellen Männern erzählt, die wegen der Demenz des einen mit fundamentalen Fragen des Lebens, Liebens und Sterbens konfrontiert werden.

«Der Kreis» von Stefan Haupt, der einen ähnlichen gesellschaftspolitischen Prozess in der Schweiz nacherleben lässt: mit dem Porträt eines mutigen homosexuellen Paares, einem Dokument der schweizerischen Schwulenbewegung und einem Sittengemälde von universaler Bedeutung.

Titelbild: Immer wieder ins Gefängnis

Regie: Sebastian Meise, Produktion: 2021, Länge: 116 min, Verleih: Filmcoopi