Die «AHV 21» ist parlamentarisch bereinigt, aber weiterhin umstritten. Das Schweizer Stimmvolk wird wahrscheinlich dazu im September 22 Stellung nehmen können. Die 2. Säule ist in Beratung und nicht weniger umstritten. Dazu kommen mindestens vier Initiativen im Zusammenhang mit den beiden Säulen. Zeit für eine Bilanz. Anton Schaller sprach mit Dr. Veronica Weisser (Bild), der Ökonomin und Vorsorge-Expertin der UBS.
Im Vordergrund der vier Initiativen stehen die der Jungfreisinnigen für ein höheres Renteneintrittsalter und die der Gewerkschaften/Linken für eine 13. AHV-Rente, welche bereits zustande gekommen und eingereicht sind. Neu dazu kommen zwei Initiativen, welche vorsehen, dass die Schweizerische Nationalbank SNB mit ihren aktuell grossen Gewinnen, welche sie aus den Negativzinsen erwirtschaftet, die AHV langfristig zu sanieren hätte. Und pikant ist, dass die Initiativen einerseits von einem bürgerlichen Komitee unter der Federführung des Zürcher SVP-Nationalrates Fredi Heer und andererseits von SP-Nationalrat Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbund, initiiert und geplant werden. Zu einer gemeinsamen Lösung werden sie wohl nicht finden. Der Bundesrat hat schon mehrmals solche Ansinnen abgelehnt mit der Begründung, die Unabhängigkeit der SNB müsse unbedingt gewahrt bleiben.
Frau Weisser, die «AHV 21» hat die parlamentarischen Hürden genommen, ist aber noch längst nicht in den trockenen Tüchern. Frauenorganisationen, die Linke, die Grünen und die Gewerkschaften wollen das Referendum ergreifen. Wahrscheinlich werden wir im September 2022 über die Vorlage abstimmen. Hat die Vorlage eine Chance?
Dr. Veronica Weisser: Die Vorlage hat eine Chance, weil die Bevölkerung weiss, dass die Angleichung des Rentenalters ein richtiger nächster Schritt ist. Sie ist aber längst nicht in trockenen Tüchern.
Die Erhöhung des Renteneintrittsalter für die Frauen von 64 auf 65 Jahren ist Stein des Anstosses. Der Gegnerschaft geht aber auch die Kompensation für die Frauen zu wenig weit. Hätte die Vorlage eine grössere Chance gehabt, wenn die bürgerlichen Parteien der linken Seite stärker entgegengekommen wären? Mehr als 9 Jahrgänge berücksichtigt, höhere Leistungen zugestanden hätten?
Man sollte die Frage stellen, ob ein Privileg, das abgeschafft wird, überhaupt kompensiert werden muss. Grundsätzlich nein. Ich glaube auch nicht, dass eine noch umfassendere Kompensation, die Personen, die gegen diese Angleichung sind, bewogen hätte, die Reform zu unterstützen. Denn die Kompensationen, die entschieden wurden, sind grosszügig und die Anzahl der Generationen, die von einer Kompensation profitieren werden, sind so viele, dass die Wirkung der Reform zu Gunsten der AHV zu einem grossen Teil verpufft.
Schon jetzt scheint klar zu sein, dass mit der «AHV 21» die erste Säule der Altersvorsorge nur für kurze Zeit saniert werden kann. Laut Experten und auch nach Berechnungen des Bundes soll die AHV bereits 2027 wieder ein negatives Umlageergebnis aufweisen, also in den roten Zahlen stecken, auch wenn der Vorlage vom Volk zugestimmt wird. Teilen sie diese Auffassung?
Das ist richtig, das Umlageergebnis wird bald wieder negativ sein. Die grossen Babyboomer-Jahrgänge gehen jetzt in Rente. Das belastet die AHV massiv.
An einer Veranstaltung des Sozialliberalen Forums SLF zur Altersvorsorge haben Sie Lösungsansätze skizziert. Sie legten dar, dass man die Pro-Kopf-Einzahlungen in die AHV anheben, die Pro-Kopf-Rentenanstiege dämpfen oder die AHV-Renten senken könnte. Man könnte eben auch das Renteneintrittsalter erhöhen. Und ganz brisant: Man könnte die Renten von gewissen Gruppen senken, z.B. Wohlhabenden ohne Kinder könnte man nur noch 50% der AHV auszahlen. Welche Ihrer Vorschläge favorisieren Sie?
Die Perspektive, aus der ich Alternativen primär beurteile, ist die der Generationengerechtigkeit. Um die Generationengerechtigkeit wieder etwas mehr ins Lot zu bringen, wären alle diese Möglichkeiten akzeptabel, ausser der Anhebung der Pro-Kopf-Einzahlungen (über höhere Beitragssätze, höhere Beiträge aus dem Bundeshaushalt oder über die Mehrwertsteuer), denn das belastet einseitig die Jungen. Die Anhebung des Rentenalters hat den Charme, dass dabei der Wohlstand aller Generationen erhalten bleiben könnte. Nur sind wir mit dieser Massnahme schon viel zu spät. Viele Babyboomer-Jahrgänge sind schon in Rente, und die, die es noch nicht sind, sollen für die Anhebung des Rentenalters so stark kompensiert werden, dass die Lasten doch wieder auf die jungen Generationen fallen. Wenn man die Perspektive wählt, wer es sich am meisten leisten kann, eine Mehrbelastung zu tragen, dann wissen wir, dass die Rentner unter allen Jahrgängen die tiefsten Armutsquoten (materielle Entbehrung) und die grössten Vermögen aufweisen, sodass eine Belastung Rentner durchaus zumutbar wäre.
Rentenkürzungen für Wohlhabende ist doch sehr gewagt. Für viele gut bis sehr gut Verdienende kommt die AHV doch einer Reichtums-Steuer gleich, weil Leute mit Einkommen ab rund 85’000 Franken (aktuell) mehr leisten als sie jemals zurückerhalten, sich solidarisch an der AHV beteiligen?
Jede Massnahme tut weh, denn wir haben uns einfach viel zu viel versprochen. Genau genommen haben wir uns Renten von Kindern versprochen, die wir nie gehabt haben.
Das deutsche Nachrichten-Magazin «Der Spiegel» bezeichnete einmal die AHV als sozialistische Errungenschaft. Ist sie das?
Die AHV deckt zusammen mit den Ergänzungsleistungen die minimale Lebensgrundlage im Rentenalter. Dabei ist sie solidarisch finanziert, d.h. Gutverdiener tragen stark überproportional bei. Aus meiner Sicht ist dies ein wichtiger und richtiger Mechanismus in einer funktionierenden Marktwirtschaft und hat wenig mit Sozialismus zu tun.
Was ist aktuell zu tun? Können die von der Gegnerschaft geltend gemachten Mängel an der «AHV 21» durch die ebenfalls anstehende Reform der 2. Säule, der beruflichen Vorsorge, allenfalls gar kompensiert werden?
Die 2. Säule eignet sich nicht besonders gut als System um Personen aufgrund ihres Geschlechts zu begünstigen. Denn sogar, wenn man mit einer Massnahme anteilig mehr Frauen als Männer begünstigt (beispielsweise 80% der Frauen kompensiert und «nur» 70 Prozent der Männer), dann ist aber die absolute Anzahl von Männern, die begünstigt wurden, doch meist höher. Wenn man Frauen begünstigen möchte, könnte man aus meiner Sicht eine «Mutterzusatzrente» in der AHV einführen, finanziert durch eine neue Steuer auf männliche Rentner. Männliche Rentner haben in der Regel hohe Renten in der zweiten Säule erhalten können, weil die Mütter bei der Kinderbetreuung und im Haushalt mehr übernommen haben, oder weil die Männer gar keine Kinder hatten. In beiden Fällen haben die Mütter durch die Bereitstellung der AHV-Zahlenden Kinder Leistungen für die Männer derselben Generation erbracht, die sich für die Mütter nicht ausgezahlt haben. Das könnte man sich überlegen, zu korrigieren.
Die Sanierung der 2. Säule bezeichneten Sie an der Veranstaltung als sehr schwierig. Menschen, die in den 2030er Jahren in Pension gehen werden, müssten gegenüber früheren Rentnerjahrgängen mit markanten Renteneinbussen rechnen, bis gegen 45%. Was ist zu tun? Der Umwandlungssatz im obligatorischen Bereich soll von 6,8 auf 6,0% gesenkt werden. Das Renteneintrittsalter ebenfalls erhöht. Genügt das?
Wir können nicht erwarten, immer mehr Jahre in Rente sein zu können und gleich wenig Jahre dafür sparen zu können. Wir müssen mit dem Sparprozess früher anfangen, länger weitermachen (über das Alter 66 hinaus) und die Umwandlungssätze weiter Richtung 4,5% absenken. Ich glaube ausserdem, dass wir realistischer werden müssen – wollen wir nicht länger arbeiten, müssen wir es akzeptieren, im Rentenalter ärmer zu sein.
Müsste nicht eine umfassende Reform an die Hand genommen werden?
Wenn die Reformen zu «umfassend» werden, dann haben sie an der Urne keine Chance. Ich glaube, dass kleine Reformen bessere Chancen haben .
Wenn Sie auf der «Grünen Wiese» die Schweizerische Altersvorsorge konzipieren könnten. Was würden Sie vom geltenden 3-Säulen-Konzept übernehmen, was würde Sie neu aufgleisen?
Die drei Säulen blieben. Ich würde aber das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung koppeln, sodass jede Generation im Durchschnitt der Generation etwa 22% ihres Lebens als Rentner verbringen würde. Zudem müsste es möglich sein, ohne steuerliche Nachteile so lange man möchte weiter zu arbeiten, wenn man das möchte. Zusätzlich würde die Höhe der AHV-Rente von der Anzahl Kinder, die man grossgezogen hat, abhängen. Je weniger Kinder man hatte, desto mehr Vermögen konnte man schliesslich in der 2. Säule und 3. Säule äufnen. In der zweiten Säule würde ich eine freie Wahl der Pensionskasse einführen, den Koordinationsabzug und die Eintrittsschwelle streichen, den Sparprozess mit Alter 20 starten und die Anspar- von der Auszahlphase trennen. Man könnte also problemlos von einer Pensionskasse in eine andere wechseln und bei Erreichen des Rentenalters entscheiden, welcher Kasse man sein Vermögen anvertraut und welche Kasse somit die Rente ausbezahlt, zu welchem Umwandlungssatz. Die Umwandlungssätze würden so die tatsächliche Lebenserwartung widerspiegeln. In der dritten Säule würde ich vor allem die Einzahlung auch für nicht-Erwerbstätige ermöglichen. Schliesslich: In allen Säulen und auch im Erb- und Steuerrecht würde ich es ermöglichen, dass Konkubinat und andere heute schon übliche Formen der Partnerschaft stärker berücksichtigt werden.
Dr. Veronica Weisser (42) studierte Ökonomie, Mathematik und Internationales Management in Deutschland, Frankreich und Spanien und stiess 2006 zum Research von UBS, wo sie zunächst in New York und anschliessend in Zürich Analysetätigkeiten ausübte. Heute verantwortet Veronica Weisser die Weiterentwicklung der strategischen Themenbereiche Altersvorsorge, Hypotheken und Nachhaltigkeit für die UBS Schweiz. Sie hält regelmässig im In- und Ausland Vorträge zur Weltwirtschaft, Anlagestrategien und den Finanzmärkten sowie zur Schweizer Makroökonomie und dem Vorsorgesystem.
Der Artikel gefällt mir bis auf einen Punkt;
Auch kinderlose bezahlen Kinderzulagen ! also sind bereits solidarisch.
Dass der Kinderbonus noch höhere Bedeutung bekommt , ist nicht gerecht.
Manche Mutter könnte – wenn sie wollte – arbeiten. Oft eine Sache der Organisation.
Ehefrauen mit sehr gut verdienenden Ehemänner sollten daher KEINE Kindergutschrift erhalten, weil sie dies gar nicht brauchen und folglich NICHT solidarisch ist.
Die Kindergutschrift sollte, nicht a priori allen Frauen zugutekommen sondern nur bei schwachen Einkommen oder Vermögen. Weil schwache Einkommen keine grossen Sparmöglichkeiten haben. Die hohen Lebenskosten erlauben es kaum.
Ihre Gedanken gehen Richtung Sozialamt. Das ist aber nicht Aufgabe der AHV.
Wie bezahlen denn kinderlose Kinderzulagen? Diese Kinderzulagen bezahlt der Arbeitgeber, also eine juristische «Person».
Dass die Kinderbetreuungszeiten bei Bedarf gesplittet werden ist auch richtig und hat nichts mit der Einkommenssituation zu tun.
Solidarität wird durch die Gutverdiener geleistet, indem Beträge auf Einkommen bis zum Beitragsmaximum geleistet werden.
Wem die die Kindergutschriften zugute kommen sollen ist doch klar, wir haben doch Gleichberechtigung, da wird nicht nach Geschlecht geteilt sondern eben gesplittet.
Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Aus dieser Sicht kann ich die Argumente von Frau Dr. Weisser im Dienste der UBS gut verstehen.
Ein nächstes Interview wäre auch mit einem Gewerkschaftsökonomen möglich. Dann würden wir etwas über die Vorteile des Umlagesystems der AHV hören, das durch die Überführung der zweiten in die erste Säule gestärkt würde. Die Gegner kämen dann aus dem Finanzbereich, weil die Geschäfte mit dem riesigen Kapital aus 2. und 3. Säule nicht mehr möglich wären.
Warum gewinnen auf unserem Planeten bei Verteilkämpfen immer die Habenden? Vielleicht weil die Gier keine Grenzen kennt.
Herr Rohrer strebt offenbar eine vollständige Umkrempelung des Systems an. Darüber kann man selbstverständlich diskutieren, obwohl so etwas wahrscheinlich kaum mehrheitsfähig wäre und in jedem Falle Jahre dauern würde.
In der Zwischenzeit würden die Jungen immer mehr in das heutige Fass ohne Boden einzahlen, bis zum bitteren Ende.
Deshalb sollten wir heute ohne ideologische Scheuklappen jeder einigermassen vernünftigen Lösung zustimmen, welche die Erosion des AHV-Fonds stoppt oder zumindest bremst.
Was soll diese «AHV-Revision» die keine ist? Das ist doch keine Lösung. Das bringt nichts, wenn die erzielten Einsparungen durch das Frauen-Rentenalter 65 gleich wieder verheizt werden durch Überbrückungsleistungen an die betreffenden Frauen. Allfällig nötige Ausgleich wären temporär durch die EL abzugelten.
Stossend wird es dann ganz, wenn dadurch Frauen für vergleichbare Beitragszeiten und vergleichbare Beitragszahlungen, höhere Renten als Männer bekommen sollen.
Die Frauen betonen (im Sinne Lautstärke) doch immer, dass die Gleichberechtigung durch zu setzen sei. Jetzt ist der Zeitpunkt da, wo sie Farbe bekennen müssen. In diesem Falle gleiches Rentenalter wie die Männer, mit gleicher Rentenberechnung.
Ich werde auf jeden Fall die vorliegende Lösung an der Urne ablehnen.
Sehen Sie Herr Looser, die AHV ist eben DAS Sozialwerk unseres Landes, das auch die grössten Emotionen verursacht. Doch Fakt bleibt, dass wir mit der Erhöhung des Rentenalters für Frauen auf 65 immerhin einen ersten Schritt in Richtung einer echten Revision machen. Dass er nicht grösser geworden ist, liegt an unserem politischen System, das auf Konsens beruht. Immerhin gilt es, diesen kleinen Schritt in der kommenden Referendumsabstimmung zu bestätigen, um danach eine nachhaltigere Revision anzugehen, die die Tatsache nicht mehr länger ausblenden kann, dass die Lebenserwartung im Rentenalter seit Beginn der AHV 1948 um über 40% bei Männern, über 60% bei Frauen gestiegen ist. Entsprechend ist auch das Rentenalter anzupassen. So hoffe ich doch, dass auch Sie dieser politisch breit abgestützten AHV-Revision zustimmen können.