Marie-Eve Hildbrand hat mit ihrem Essay «Les Guérisseurs» zur genau richtigen Zeit mit dem Arzt- und Gesundheitsthema nachvollziehbar eine kluge Anthropologie des Heilens formuliert. Ab 6. Januar 2022 im Kino.

Heute, mitten in der Corona-Epidemie, ist dieser Film notwendig! Heute, wo Medizin, Ärzte und Gesundheit vor allem als Zahlen und Fakten für die Ökonomie und Politik dominieren – und dabei nur selten nach dem Sinn gefragt wird. Da ist Marie-Eve Hildbrands Essay «Les Guérisseurs» genau richtig.

Der Film beginnt mit bewegten, unscharfen, schwer deutbaren Schwarzweissbildern, begleitet von einer weiblichen Stimme und untermalt von sphärischen Klängen: «Ich bin alles. Die Mitte. Irgendwo zwischen dem Nichts und dem Unendlichen. Ich bin ein Organismus. Ich bestehe aus Milliarden Zellen, die mit Milliarden Bakterien zusammenleben. Ohne den anderen, ohne zu hören, schauen, berühren gibt es mich nicht. Alleine sterbe ich.» Mit diesem Einstieg gibt der Film den Ton für den ganzen Film an: Er verweist hinter den Szenen auf ein Geheimnis, und indem er mit den gleichen Bildern schliesst, heisst das wohl, dass das im Plot Angesprochene nicht als Antwort, sondern als Frage zu verstehen ist.

Francis Hildbrand, Landarzt und Vater von Marie-Eve

Marie-Eve Hildbrand, die 1978 in Lausanne geborene Filmemacherin, nähert sich aus verschiedenen Perspektiven ihrem Sujet. Seit einigen Monaten beobachtet sie ihren Vater, den Landarzt, möchte die Beziehung ergründen, die er zu den Kranken aufgebaut hat; er möchte seine Praxis nach 40 Jahren jemand Jüngerem übergeben, was schwieriger wird als erwartet. So kommen Patienten bis zum letzten Tag und bitten darum, die grossen und kleinen Wunden ihrer Seelen und Körper zu heilen. Das Filmporträt ist für mich wertvoll, glaubwürdig, überzeugend, mit Empathie und ohne Polemik. – Ein Spielfilm wie «Médecin de campagne» von Thomas Lilti könnte vielleicht als Erweiterung dienen.

Ein paar Kilometer entfernt, in einem nach Formaldehyd riechenden Raum einer Universitätsklinik, sezieren Studierende zum ersten Mal mit unsicheren Händen Leichen. In ihren etwas grossen Kitteln konzentrieren sich Lorena, die wir etwas näher kennenlernen, und ihre Kommiliton:innen auf ihre Arbeit, doch der Kopf ist bei ihr und einigen andern bei Gesprächen über Seele, Geburt und Sinn. Die Studierenden üben und werden geprüft in Anamnese und Gesprächsführung. – Eine Ausweitung des Themas wäre der Film von Richard Dindo, «HUG – L’hôpital cantonal universitaire de Genève».

Monique und Nasma haben keinen Eid auf Hippokrates geschworen, kümmern sich aber gleichfalls, wenn auch auf andere Weise, um die Verletzlichkeit der Mitmenschen. Von der uralten Tradition der Geheimhaltung bis hin zur Ausübung des Schamanismus verfolgen sie ihr Ziel, Beziehungen aufzubauen. Sie stehen für die Natur- und Geistheiler. – Weiterführende Beiträge liefern Thomas Karrers Film «Zwischenwelten». – Neu und häufiger melden sich zum Thema auch KI-Forscherinnen und -Forscher, die mit Robotern ihre Beiträge der Medizin und Pflege anbieten. – Ein Film, der dieses Thema ausführt, ist «The Bain – Cinq Nouvelles du Cerveau» von Stéphane Bron.

Aus diesen Perspektiven geht Marie-Eve Hildbrand an ihr Thema. Durch die Untersuchung der Komplexität der Körper und die Tiefenschichten der Psyche skizziert «Les Guérisseurs» die Gegenwart und ansatzweise die Zukunft der Medizin, das Gesundheitssystem im Wandel.

Selbstversuche mit dem Stethoskop

«C’est le ton qui fait la musique»

So heisst es oft, wenn es ums Verstehen geht, auch bei Filmen, wo es entscheidend ist, wie er uns anspricht, wie er mit uns kommuniziert: ob er uns, im besten Fall, zum Lernen motiviert, oder im schlechtesten, manipuliert. Marie-Eve Hildbrands Film «Les Guérisseurs» ist, in meinem Urteil, eine stille, zurückhaltende, authentische, glaubhafte, nie missionierende oder besserwisserische, sondern verständliche, angenehme Einladung zum Verstehen und Weiterdenken. Die Kamera von Augustin Losserand und die Musik von Christian Pahud unterstützen die Drehbuchautorin und Regisseurin.

Kommunikation mit dem Roboter

Aus einem Interview mit Marie-Ève Hildbrand

 

Woher kam der Wunsch, einen Film über Menschen zu machen, die heilen?

Als ich auf die 40 zuging, hatte ich, obwohl ich bis dahin immer gesund gewesen war, ein paar Probleme. Plötzlich waren viele Ärzte in meinem Leben. Ich war erstaunt darüber, was ich herausfand, wie überfordert sie manchmal schienen. Ich fing an, mir Fragen über unser Gesundheitssystem zu stellen, über die Rolle der Pflegekräfte und darüber, was an einem der wenigen Orte, an dem man noch zerbrechlich sein kann, gespielt wird. Zufällig fiel diese Zeit mit dem Karriereende meines Vaters zusammen, der nach 40 Jahren als Landarzt seine Praxis übergeben wollte. Mir wurde klar, dass ich ausser der Tatsache, dass er viel arbeitete, nur sehr wenig über seinen Alltag und seine Beziehung zu seinem Beruf wusste.

Der Film beginnt mit verschwommenen und mysteriösen Bildern. Man weiss nicht, ob es sich um eine Bakterie handelt, die unter dem Mikroskop betrachtet wird, oder um eine Person im weissen Kittel, die aus dem Jenseits kommt.

Es ist eines der ersten Bilder der Kinematografie, das weltweit bekannt ist, «Monkeyshines», gedreht von William Dickson und William Heise für die Laboratorien von Thomas Edison. Damals waren es in erster Linie Wissenschafter, vor allem Ärzte, die versuchten, die Bewegungen des menschlichen Körpers zu erfassen und zu zerlegen. Das Bild wirkt ein bisschen wie ein Rorschachtest, jede und jeder sieht das, was sie oder er sehen will. Darüber hinaus hört man die Stimme aus dem Off, die das Thema einführt und mehrmals auf den Begriff der Verbindung zurückkommt. Zwischen der Zelle und dem Körper, zwischen uns und dem Universum. Ein wichtiger Gedanke im Film. Auch eine Hommage ans Kino.

Der Film funktioniert auf drei Ebenen: der ältere Arzt, der in Rente geht, diejenigen, die die Nachfolge antreten, die Heiler:innen und KI-Forscher:innen, die eine Alternative zu haben scheinen.

Eine der Fragen, die dem Film zugrunde liegt, lautet: Wie könnten die klassische westliche Medizin und die holistische komplementäre Medizin besser zusammenarbeiten? Der Film zeigt auch, wie mein Vater während der Dreharbeiten durch das Einsetzen eines Stents nach einem Herzanfall gerettet wurde. Doch ich glaube, dass wir in dieser Medizin, die auf Wissenschaft, Überspezialisierung und Transhumanismus beruht, zu weit gehen.

Ist diese Medizin das Spiegelbild unserer Gesellschaft?

Man kann auf jeden Fall sagen, dass unsere Gesellschaft die Dinge gern formatiert und vereinfacht und in Schubladen steckt. Eine bestimmte Krankheit macht eine bestimmte Behandlung erforderlich. Aber man muss zwischen dem unterscheiden, worin wir alle gleich sind, der Anatomie, das «Mechanische», das, was die Studierenden lernen – und dem, was an jeder/m Einzelnen spezifisch ist. Wir müssen gehört werden, wir müssen selbst an unserer Genesung mitwirken. Das ist die andere grosse Frage, die der Film untersucht: Was macht uns gesund? Die Antwort findet sich oft in Dingen, die sich nicht messen lassen. Manchmal ist es die Verbindung zwischen Heilenden und Kranken selbst, die heilt.

In dem Film gibt es eine rührende Szene, in der Ihr Vater einer älteren Frau auf einem Bauernhof einen Arztbesuch abstattet. Man hat den Eindruck, dass dieser Moment des Austausches schliesslich das Wichtigste für sie ist, die Tatsache, dass man ihr zuhört.

Ich denke, dass Heilende einen Teil dessen, was Kranke erleben, aufnehmen müssen. Gute Heilende setzen ihre Macht mit Demut und ohne Dominanzverhältnis ein. Sie kennen ihre eigenen Stärken, aber auch ihre Schwächen und wissen, dass man in erster Linie fähig sein muss, sich selbst zu heilen. Sie verstehen es, den Kranken wieder Macht und Autonomie zu geben.

Titelbild: Heilende Hände

Regie: Marie-Ève Hildbrand; Produktion: 2018, Länge: 80 min; Verleih: Bande à Part Distribution