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Täuschungen und Entdeckungen

Seine Amtszeit als Konservator des Kunstmuseums Solothurn beendet Christoph Vögele mit einer vielschichtigen Präsentation von Kunst aus den letzten 125 Jahren: «Tiefenschärfe. Zwischen Lust, List und Schrecken.»

Sei es ein Schnappschuss oder ein Gemälde, immer interessieren wir uns dafür, was dargestellt ist, was wir wahrnehmen. Jedes Sehen und Erkennen löst etwas in uns aus: Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, alle verbinden sich zu dem Eindruck, den wir durch die Betrachtung des Bildes erhalten. Wir sehen, was wir sehen können, worauf wir vorbereitet sind.

Bei meinem Rundgang fällt mein Blick schon von weitem auf die auffällige rotweisse Wand des kleinsten Raumes. Beim Näherkommen scheint es, als seien überbreite rotweisse Papierstreifen unordentlich zerrissen und provisorisch an die Wand geklebt. Schliesslich sehe ich Überschrift genau. Die deutsche Künstlerin Friederike Feldmann (geb. 1962) hat die Wände in der Manier des trompe-lʽœil bemalt, eine beliebte Tradition, seit in der Renaissance die Darstellung der Perspektive wiederentdeckt worden war. Die dicken roten Linien ähneln einer unbekannten Schrift, die nur die Schreiberin selbst entziffern könnte.

Bernard Voïta (geb. 1960), Jalousie I (Venetian Blends I), 2017, thermolackierter Stahl (alle Fotos mp)

Im nächsten Saal, in Sichtweite der Überschrift, leuchten noch einmal rote Balken, gleichsam als Antwort. List und Lust, die zum Untertitel der Ausstellung gehören, finden sich hier zusammen: Von Bernard Voïta (geb. 1960) sehen wir Jalousie, die sich scheinbar ausziehen lässt, aber doch mehr wie eine witzige Konstruktion wirkt, die mit dem Buchstaben M spielt.

Tiefenschärfe, exakter: Schärfentiefe, ist ein Begriff, der aus der Optik stammt und ein Mass dafür ist, was sich durch eine Linse erkennen lässt, in welche Tiefe des Raumes die Wiedergabe einer Linse reicht. Tiefenschärfe benutzen wir auch im übertragenen Sinne: In welche inneren Tiefen führt uns ein Werk, ein Kunstwerk, ein Stück Literatur, ein philosophischer Essay. Beim Rundgang durch die Ausstellung erkennt die Besucherin, wie vielschichtig diese Tiefenschärfe verstanden werden kann.

Taiyo Onorato & Nico Krebs, W12, C-Print 2020 (Ausschnitt)

Tiefenschärfe gedanklicher Art verlangt eine Reihe von Fotografien, die auch technisch mit dieser Idee spielt: Die in Berlin lebende Künstlerin Annette Kelm (geb. 1975) setzt dreizehn Bücher so in Szene, dass wir meinen, sie in die Hand nehmen zu können. Die Bücher sind in den 1920-30 Jahren erschienen und 1933 durch Glück oder Zufall den Bücherverbrennungen der Nazis entgangen.

An der gegenüberliegenden Wand erblicken wir drei übergrosse mit Laser bearbeitete Fotografien, geschaffen vom Duo Taiyo Onorato & Nico Krebs (beide 1979 geb.). Diese scheinen aus Albträumen entstanden zu sein: hier Verfall und Verlorenheit in einer öden Welt, andere zeigen Wolkenkratzer, ebenso raffiniert wie chaotisch konstruiert, – eine bittere Satire auf die scheinbare Machbarkeit der Welt.

Sofía Hultén (geb. 1972), Undead, undead #9, polierte Baggerzähne

Durch fast alle Säle begleiten uns Teile einer Serie der schwedischen Künstlerin Sofia Hultén (geb. 1972), glänzende Metallstücke, auf Holz montiert oder direkt an die Wand gehängt, mit dem zunächst rätselhaften Titel Undead, undead. Es sind Zähne von Baggerschaufeln, von der Künstlerin von allem Dreck befreit und blank poliert. Erst mit dem Wissen, woher diese Teile stammen, findet die Besucherin einen roten Faden. Der Titel scheint auf Dracula, den Untoten, anzuspielen. Wie dieser das Blut des Lebens aussaugt, so zerstört der Bagger das Erdreich, die Landschaft, zuweilen auch Häuser.

Es fällt auf, wie stark sich die Ausstellungsobjekte aufeinander beziehen. So wird der wunderbare Holzschnitt Sommer I von Franz Gertsch, eine Arbeit, in der sommerliches Licht und Wärme in jedem Blatt vibrieren, ergänzt durch mikroskopisch genaue Fotografien von Simone Kappeler (geb. 1952). Jede dieser inszenierten Naturfotografien zeigt Blüten und Pflanzen sowie eine Schmetterlingsart – die Schönheit dieser Werke erscheint unwirklich, schmerzlich wie das verlorene Paradies, trotz ihrer strahlenden Farben. Ein Stillleben von Adolf Dietrich aus seinem Garten in Berlingen TG hingegen bietet einen Ruhepunkt für Auge und Geist. – Das Naive seiner Werke setzt an verschiedenen Punkten der Ausstellung einen stillen Kontrast, so an anderer Stelle das Portrait seines Hundes.

Adolf Dietrich (1877-1957), Balbo auf der Wiese liegend, 1955, Öl auf Pavatex

Dietrichs Hund liegt ruhig auf einer Wiese und scheint über eine Vielzahl von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen zu wachen. Portraits schöner Frauen, fotografiert von Hans Staub, ein Selbstportrait von Félix Vallotton und das berührende Foto eines Lehrlings, fotografiert von Jakob Tuggener. Dieses Bild bezieht sich auf eine Reportage von Hans Staub über die Aargauer Tabakkrise 1937 und weitere Arbeiterfotos im vorherigen Saal. «Mit der Redlichkeit seiner Berichterstattung spiegelt Staubs ‹Tiefenschärfe› sowohl fotografische wie ethische Ansprüche», kommentieren die Kuratoren.

Félix Vallotton (1865-1925), Les intimités, 1897, hier drei von insgesamt 10 Holzschnitten auf Papier

Schrecken, ist das dritte Element, das «Tiefenschärfe» in dieser Ausstellung charakterisiert. Eine ganze Gefühlsleiter erkennt die Besucherin in Félix Vallottons fesselnder Serie von zehn Holzschnitten unter dem Titel Les intimités. Nur durch Form und den Schwarzweiss-Kontrast schafft Vallotton Momente eines Beziehungsdramas von filmischer Spannung – ein satirischer Blick auf Scheinheiligkeit, Betrug und Resignation.

Zwei Werke von Boris Rebetez im letzten Saal faszinieren die Besucherin: Bronzespiegel und Uccellacci e uccellini. Während sich die Spiegelskulptur mir regelrecht in den Weg stellt, denn ich komme nicht darum herum, mich im Spiegel beim Näherkommen zu beobachten, ändert sich der Anblick auf die luftige Skulptur des Vogelkäfigs mit jedem Schritt und bleibt doch ein Gefängnis für kleine und grosse Vögel.

 

 

 

 

 

 

 

 


Boris Rebetez (geb. 1970), Suprême, 2021, Bronzespiegel; daneben: Uccellacci e uccellini, 2008, verzinkter Stahl

Nach 24 Jahren Tätigkeit beendet Christoph Vögele mit dieser Ausstellung seine Arbeit als Konservator des Kunstmuseum Solothurn. Für Tiefenschärfe wählte er zusammen mit seinem Co-Kurator Andreas Fiedler Werke aus, die unter anderem Bezüge zu seinen Anfängen an diesem Ort aufzeigen. Es ist ein verschmitzter Blick zurück auf den Titel seiner Eröffnungsausstellung 1998: Die Schärfe der Unschärfe. Angesichts der Werke aus den – grob geschätzt – letzten 125 Jahren entfaltet sich den Betrachterinnen und Betrachtern ein breites Spektrum an Kunstrichtungen und Stilen, die untereinander oft ganz selbstverständliche, oft erstaunliche Beziehungen aufscheinen lassen. Das zu erkennen, gehört zum Vergnügen dieses Museumsbesuch.

Tiefenschärfe. Kunstmuseum Solothurn bis 24. April 2022.
Informationen über Führungen und Begleitveranstaltungen.

Katalog: Tiefenschärfe. Scheidegger&Spiess 2022. 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen.
ISBN 978-3-03942-073-5

Titelbild: Friederike Feldmann, Überschrift. 2022. Tusche und Sprühfarbe (Foto mp)

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