Der Theologe und Seelsorger Daniel Kallen begleitet seit dreissig Jahren Menschen am Ende ihres Lebens. Über die tiefsinnigen, schönen, aber auch schrägen oder humorvollen Gespräche am Sterbebett hat er ein Buch geschrieben.
Ferdinand Hodler malte nicht nur Landschaften, sondern zwischen 1913 und 1915 auch das Sterben seiner Geliebten, Valentine Godé-Darel. Während vieler Wochen verbrachte er viel Zeit an Valentines Bett, um ihren Zerfall zu zeichnen. Auf einem Bild aus dem frühen Stadium der Krankheit ist Valentine schon als Bettlägerige zu sehen, den verzweifelt fragenden Blick zum Maler gewandt. Will sie wissen, was mit ihr geschieht? Oder fragt sie Hodler, was er da tue? Die Ölbilder sind erhalten, die Gespräche zwischen dem Maler und der Sterbenden nicht.
Jeder Mensch wird einmal sterben. Das ist unausweichlich. Es ist aber auch so, dass jeder Mensch nur einmal stirbt. Das ist eine der grossen Herausforderungen unseres Lebens. Was ist es, was Sterbende in der Schlusskurve ihres Lebens beschäftigt? Was sind ihre Gedanken, ihre Hoffnungen, ihre Wünsche? Wovor haben sie Angst? Gibt es Dinge, die sie am Ende bedauern oder gar bereuen? Was ist für Sterbende tröstlich? Und schliesslich die grosse Frage: Wie stirbt man in einer Zeit, die keine verbindlichen Bilder und Vorstellungen von einem «Jenseits» mehr kennt?
Privatsphäre bleibt gewahrt
Der freie und kirchen-unabhängige Theologe sowie Seelsorger Daniel Kallen hat über seine vielfältigen Begegnungen und Gespräche mit Sterbenden unter dem Titel «Jeder Mensch stirbt nur einmal» ein Buch geschrieben. Die Namen und Orte der Begegnungen wurden so verändert, dass die Privatsphäre der zitierten Menschen gewahrt wird. Rückschlüsse auf reale Personen, Familien und konkrete Situationen sind ausgeschlossen. Trotzdem seien die Gespräche und geschilderten Erlebnisse ausnahmslos authentisch sowie echt, versichert der Verlag.
Glaube an den Himmel: War es früher einfacher zu sterben?
Kallen beginnt mit vier Thesen: 1. Niemand stirbt gerne. 2. Wir verdrängen den Tod, bewusst oder unbewusst. 3. Es gibt kein Entrinnen vor der Vergänglichkeit. Ewig ist nur das Kommen und Gehen. 4. Jedes Leben ist ein eigenes Universum. So viele Farben, Melodien, aber auch Trauer und Glück, Wut und Tränen, Liebe und Hoffnung. Und schliesslich stellt der Autor die Frage: «War es früher einfacher zu sterben? Früher, als man noch selbstverständlich an einen Himmel glauben konnte, an ein jenseitiges Paradies, das uns nach dem Leben erwartet?»
Sterben damals und heute
Mit dem Wunsch nach einem gemeinsamen «Vaterunser» werde er nur noch sehr selten konfrontiert. «Die meisten Menschen mögen auch im Leben keine Bibelsprüche hören, warum sollten sie es dann im Sterben?» fragt Kallen rhetorisch. Ein «guter Tod» bedeute heute nicht mehr, im Reinen mit Gott, sondern vielmehr im Reinen mit sich selbst zu sein. Und möglichst ohne Schmerzen und ohne medizinische Komplikationen zu sterben. «Niemand will ersticken, niemand will vor Schmerzen kaum mehr denken können, und niemand will am Ende ganz allein sein.» Eine Sterbebegleitung sieht der Autor dann als gelungen, «wenn sich Menschen am Schluss ihres Lebens selbst in Frieden loslassen können.»
Urne und Abschiedsfeier mit Kerzen?
In den Tagen und Stunden vor dem Ableben erzählten die Sterbenden dem Seelsorger aus ihrem Leben. In dieser Phase ist seine Kompetenz, zuhören zu können, gefragt. Dann geht es aber auch um ganz praktische Dinge: Viele Sterbende wollen wissen, wo ihre Asche enden wird. In einer Keramikurne, in einer Blechschachtel, in einer Holzkiste? Nachdem sie ihre entsprechenden Wünsche geäussert haben, möchten sie über die Abschiedsfeier sprechen. Einmal sagte eine Sterbende zu Kallen. «Ich möchte, dass mein verstorbener Mann Hans mich abholen kommt.»
Letzte Wünsche erfüllen
Nicht selten wird der Seelsorger mit letzten Wünschen konfrontiert: «Ich möchte noch einmal nach Hause an den Murtensee. Noch einmal meinen geliebten Garten blühen sehen. Den See und den nahen Wald riechen. Mit meiner Familie zusammen sein,» sagte eine Sterbende. Dann wird der Pfarrer auch mit Fragen konfrontiert, die er nicht beantworten kann: «Warum nur musste ich in meinem Leben so viel Leid erfahren? Immer wieder war ich krank. Was habe ich denn verbrochen? Wieso lässt Gott so viel Leid zu?», fragte ein Sterbender. «Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Ich glaube sogar, wir werden nie eine endgültige Antwort auf diese Frage finden», lautete die Antwort des Theologen.
Medialität und Jenseits
Ein Kapitel widmet der Autor der Frage, was nach dem Tod kommt. Jahrhunderte lang hat die Kirche die Frage nach dem Jenseits für sich beansprucht und beantwortet. Es gibt kein Ende des Lebens. Nach dem Ableben kommt man in den Himmel, in die Hölle oder ins Fegefeuer, in eine Art «Wartsaal», wo über den endgültigen Bestimmungsort entschieden wird. Heute kursieren die unterschiedlichsten Vorstellungen: Tote weilen nach wie vor unter uns. Oder Verstorbene werden wiedergeboren. Sogenannte «Medien» bieten Hinterbliebenen an, Kontakt zu den Lieben herzustellen. Gegen Entgeld selbstverständlich.
Ins Jenseits? Oder wenn wir aufhören zu existieren?
Kallen schildert eine interessante Begegnung mit einem sterbenden Mann zum Thema «danach». Nüchtern und mit klarem Kopf meinte dieser: «Warum nur können die meisten Menschen nicht einfach mit der Tatsache leben, dass sie mit ihrem Tod endgültig zu existieren aufhören? Was ist so schlimm daran?» Die Antwort des Seelsorgers erfolgte ebenso nüchtern wie realistisch: «Vielleicht macht der Gedanke an unsere Nicht-Existenz vielen Menschen einfach Angst.»
Feder und Waage
Zum Schluss seiner Schilderungen greift der Autor – quasi als Fazit – auf die ägyptische Mythologie zurück: Diese greift für den Moment am Ende des Lebens auf das Bild einer Feder und einer Waage zurück. Für den Autor ist die Botschaft einfach, eindringlich und wunderschön zugleich: «Am Ende des Lebens ginge es um ein leichtes Herz, um Leichtigkeit, um Unbeschwertheit…… Sterben mit einem leichten Herzen hiesse dann für mich, mein gelebtes Leben ganz ohne Reue, ohne Verbitterung und Selbstanklage, vor allem aber ohne Ballast und Lebenslast, mit einer Portion Demut, Dankbarkeit und Zufriedenheit loszulassen. Vielleicht ginge es am Ende nur noch um diese Leichtigkeit, selbst im Tod.»
Titelbild: «Die Sterbende»: Ferdinand Hodler (1853-1918) malte seine Geliebte, die Französin Valentine Godé-Darel, am 25. Januar 1915 auf dem Sterbebett. Kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter war Godé-Darel an Krebs erkrankt. Fotos: Pixabay
Jeder Mensch stirbt nur einmal, Daniel Kallen, Verlag Zytglogge, 2022, ISBN 978-3-7296-5084-8
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