Der 1991 realisierte «Bruder Klaus»-Film von Edwin Beeler kommt, 75 Jahre nach der Heiligsprechung des Nationalheiligen, in digitaler Fassung neu ins Kino: als ein Dokumentarfilm, der historisch, politisch, theologisch und filmhistorisch zu kritischen Auseinandersetzungen einlädt. Ab 14. Mai im Kino. 

Im Dezember 1991 hatte der Dokumentarfilm «Bruder Klaus» von Edwin Beeler im Kino Seefeld in Sarnen Premiere. Anlässlich der nachfolgenden Solothurner Filmtage zeigte das Kunstmuseum die Ausstellung «Bilder und Zerrbilder. Materialien zu Edwin Beelers Dokumentarfilm». Ab 2022 kommt der von Memoriav unterstützte digitalisierte Film wieder ins Kino. Der Film ist ein Zeitdokument, das den Umgang mit dem Schweizer Nationalheiligen, seine Wirkungsgeschichte, beinhaltet und die Vereinnahmung und Distanzierung widerspiegelt. Beeler verwendet seine für ihn typische filmische Sprache, um gesellschaftliche Ereignisse und Aussagen, aber auch die Visionen des Mystikers darzustellen, «Spiritualität» und «politische Haltung» zu verknüpfen und dabei die Balance zwischen historischer Figur und kritischer Rezeption zu halten.

Edwin Beeler hat bisher sieben Kinodokumentarfilme realisiert, u. a. «Hexenkinder» und «Arme Seelen». Alle haben einen Bezug zur Schweizer Geschichte, besonders im Kulturraum der Zentralschweiz. 2017 wurde er für sein Schaffen mit dem Innerschweizer Kulturpreis ausgezeichnet und gewürdigt als «aussergewöhnlichen Filmemacher, der Innerschweizer Geschichten mit fokussiertem Blick auf Besonderheiten und Mystik dokumentarisch erzählt». «Bruder Klaus» wurde mit einer Studienprämie des Bundes, der Cineast mit dem Anerkennungspreis der Stadt Luzern ausgezeichnet.


Der Holzschnitzer Studer vermisst das Gesicht von Bruder Klaus

«Bruder Klaus», Filmkritik von Franz Ulrich, Zoom Nummer 2/1992

Anstelle einer eigenen Besprechung bringe ich nachfolgend die ungekürzte Filmkritik des damaligen Chefredaktors Franz Ulrich, der am 21. Februar 2022 im Alter von 85 Jahren verstorbenen ist. Franz war ein Kenner des Schweizer Films und der Werke von Edwin Beeler, war Historiker und Literat, vertraut mit der Innerschweizer Kultur und auch der Figur von Bruder Klaus. Seine Kritik, der ich vollumfänglich zustimme, ist filmhistorisch, historisch, politisch und theologisch ein Zeitdokument. Da Franz nicht mehr lebt, habe ich mir die Erlaubnis zu diesem Abdruck selbst gegeben, in der Annahme, dass er vom Himmel herunter es akzeptiert, war ich doch einige Jahre sein Mitarbeiter, er mein Chef. – Im Blick auf den heutigen Filmjournalismus verdient dieser Text von Franz Ulrich wohl eine Auszeichnung «Summa cum laude».

«Filme über Heilige sind ein heikles Unterfangen. Die Filmgeschichte kennt nur wenige überzeugende Beispiele, etwa die Jeanne d’Arc-Filme von Carl Theodor Dreyer (1928) und Robert Bresson (1962), Roberto Rossellinis «Francesco, giullare di Dio» (1950) oder – aus jüngster Zeit – Alain Cavaliers «Thérèse» (1986). Spielfilme tun sich meist schwer, die richtige Balance zu halten zwischen kitschiger bis bigotter Hagiografie, historisierendem Kostümfilm und aktualisierender Um- und Neudeutung, die ebenfalls zu Verfälschung und unzulässiger Vereinnahmung führen kann. Auch über Bruder Klaus gibt es einen (Schweizer) Spielfilm, Michel Dickoffs «Niklaus von Flüe – Pacem in terris» (1963), der sich nur gerade vier Tage in einem Luzerner Kino halten konnte und den Hervé Dumont in seiner «Geschichte des Schweizer Films» als einen «der verheerendsten Filme, die hierzulande gedreht wurden», bezeichnet.

Ein wohl ebenso schwieriges Unternehmen ist es aber auch, einen Dokumentarfilm über einen Heiligen zu drehen, vor allem dann, wenn dieser vor über 500 Jahren lebte und wirkte. Edwin Beeler hat denn auch fünf Jahre gebraucht, um Fakten und Zeugnisse aus Vergangenheit und Gegenwart zu einem Film zu verarbeiten – eine lange Zeit, auch, wenn man die in solchen Fällen hierzulande meist übliche langwierig-mühselige Finanzierung als verzögernden Faktor in Rechnung stellt. Als Kind hat Edwin Beeler einst ein Andachtsbildchen des Niklaus von Flüe erhalten, das diesen (etwas kitschig) in der Pose des entrückten Einsiedlers zeigte. Doch wer war dieser Bruder Klaus wirklich, den manche für den Retter des Vaterlandes in den zwei Weltkriegen halten? Diese Frage zu beantworten, hat der Innerschweizer Edwin Beeler, bekannt geworden durch seinen Erstling, den Dokumentarfilm «Rothenthurm – bei uns regiert noch das Volk» (1984), ein Werk geschaffen, das dem mit Erwartungen, Befürchtungen und Vorurteilen belasteten Thema weitgehend gerecht wird. Sorgfältig wurde ein umfangreiches Bild- und Tonmaterial zusammengetragen und, unterstützt von einem hochkarätigen Team (Kamera: Norbert Wiedmer, Musik: Peter Sigrist, Schnitt: Dieter Gränicher) zu einem differenzierten Bild von Bruder Klaus, der Bauer, Ehemann, Vater, Soldat, Richter, Ratsherr, Einsiedler und Mystiker war, und seiner Nachwirkung und Bedeutung bis heute gestaltet. Edwin Beelers Dokumentarfilm nähert sich Bruder Klaus auf verschiedenen Ebenen.

Korrekt werden die (spärlichen) historischen Fakten und Zeugnisse von Zeitgenossen dargelegt. Aus ihnen und aus Zitaten aus überlieferten mystischen Texten erschliesst sich die vielschichtige und vielseitige Persönlichkeit eines mittelalterlichen Menschen. Niklaus von Flüe war ein Analphabet, der in Bildern dachte, wie seine Visionen eindrücklich zeigen. Von diesen Visionen – von der vorgeburtlichen Stern-Vision über die Turm-Vision, die den Film wie ein Leitmotiv akzentuiert, bis zur gewaltigen, geradezu magischen Brunnen-Vision am Schluss – hat sich Beeler inspirieren und leiten lassen. Mit diesen Landschaftsbildern, in denen Licht, Wasser, Erde, Bäume, Einsamkeit und Stille zu Elementen von spiritueller Qualität werden, nähert sich Beeler auf seine ganz persönliche, meditative und dem Medium Film adäquate Weise dem Wesen und Geheimnis des Einsiedlers vom Ranft. Diese Passagen gehören zu den eindrücklichsten des Films. Sie bilden einen wohltuenden Kontrast zu den Interviews und Statements verschiedener Personen, die der Gefahr des Zerredens nicht immer entgehen.

Auf einer anderen Ebene zeigt der Film, wie Bruder Klaus, von dem nur wenige direkte Spuren überliefert sind, von der Nachwelt bis heute für verschiedene Zwecke gebraucht und missbraucht wurde und wird: als Vorbild für Gehorsam, Entsagung, Konsumverzicht, Busse und Frömmigkeit, als Aussteiger, Mystiker und Visionär, als Soldat und Vaterlandsverteidiger, als Friedensstifter, Staatsmann und Patriot oder gar als Nationalist und «katholischer Wilhelm Tell». Vor dem Hintergrund solch unterschiedlicher Bewertung erscheint Niklaus von Flüe als widersprüchliche Gestalt. Er war ein angesehener Bürger, Vater von zehn Kindern, Besitzer von Haus und Boden. Im besten Mannesalter hat er Frau und Kinder verlassen, hat alle Ämter und den weltlichen Besitz aufgegeben und ist Einsiedler geworden im Melchtal. Er betete und fastete und soll zwanzig Jahre lang bis zu seinem Tod ohne Nahrung ausgekommen sein.

Der Rückzug von Bruder Klaus in die Einsamkeit ist keine Flucht vor öffentlicher Verantwortung. Er wird von vielen Leuten aus allen Ständen aufgesucht und um Rat gebeten. Er ist bestens auf dem laufenden über das politische Geschehen im In- und Ausland und wird als unbestechlicher Berater und Vermittler anerkannt. Dank seiner Mahnung zum Frieden schlichtet er 1481 den Streit an der eidgenössischen Tagsatzung in Stans, die am Konflikt zwischen Stadt und Land zu scheitern droht (Stanser Verkommnis). Bruder Klaus ist auch Mystiker und Visionär, aber alles andere als weltfremd. In einer Zeit, da Aberglaube und Hexenwahn um sich greifen (1487 erscheint der berüchtigte «Hexenhammer»), stellt Bruder Klaus mit kühlem Kopf fest: «Das Beste, was Gott uns Menschen gegeben hat, ist der Verstand und die Seele.» 1947 wird Bruder Klaus von Papst Pius XII. heiliggesprochen. Bruder Klaus hat gerade noch vor der Reformation gelebt und wird als «ökumenischer Heiliger» bezeichnet. Zwingli hat sich im Kampf gegen das Söldnerwesen mehrmals auf ihn berufen, und zu den qualifiziertesten Beiträgen über Bruder Klaus gehören solche von evangelischen Autoren (beispielsweise von Walter Nigg oder Hans Rudolf Hilty). Manche lernen Bruder Klaus durch C.G. Jung kennen, der sich eingehend mit seinen Visionen befasst hat. Zusammen mit Wilhelm Tell und Winkelried gehört Bruder Klaus zu den mythischen Figuren der Schweizer Geschichte, aber als einziger der drei gehört er nicht ins Reich der Legenden, sondern hat nachweisbar wirklich gelebt. Aber auch er wurde im Laufe der Zeit zu einer «übermenschlichen», mythischen Figur emporstilisiert und einem (frommen) Schema angepasst. Das Wilde, Rätselhafte an ihm wurde verdrängt. Bruder Klaus hat die Welt zugunsten seiner «geistlichen Berufung» verlassen, hat ganz auf seine innere Stimme gehört. War diese Berufung nicht auch eine Art Selbstverwirklichung? Denn ein Schlüsselwort von Bruder Klaus ist «Ein eigen Wesen»: ganz bei sich sein, im Frieden mit sich und Gott sein.

Einen breiten Raum nehmen im Film die Befragungen und Aussagen verschiedenster Menschen über ihre Beziehung zum Einsiedler vom Ranft ein: Historiker, Politiker, Wallfahrer – kritische und weniger kritische. Zu Wort kommen unter anderem auch eine Frau, die wunderbar geheilt wurde, der ehemalige Bruder-Klausen-Kaplan, ein Bruder-Klaus-Verehrer und der Kapuziner Paul de la Croix, der im Wallis als Eremit lebt – eine der schönsten Passagen des Films. Mögen einige Statements zu ausführlich, gar zu geschwätzig und nicht ganz frei von Selbstgefälligkeit wirken: Gerade die Spannweite und Gegensätzlichkeit dieser Aussagen und Stellungnahmen ergeben ein ebenfalls vielschichtiges Bild von dem, was heutigen Menschen, Wallfahrenden, Ratsuchenden, Touristen und anderen Bruder Klaus bedeutet.

Edwin Beeler und sein Team haben aus dem vielfältigen Material ein reiches Mosaik geschaffen, das jede didaktische Trockenheit und jede Schematik vermeidet. Ohne seinen kritischen Standpunkt gewissen Erscheinungen gegenüber zu verleugnen, hat sich Beeler diskret zurückgehalten. Er enthält sich jeder Besserwisserei oder Verurteilung, lässt die Bilder und Menschen sprechen und Zuschauerinnen und Zuschauer ihre eigenen Schlüsse ziehen. So ist ein interessanter, detailreicher und anregender Film entstanden, der dazu einlädt, sich näher mit dem zeitgemäss-unzeitgemässen Heiligen vom Ranft zu befassen.»

Titelbild: Die Turmvision durchzieht als Leitmotiv den Film

Regie: Edwin Beeler. Produktion: 1941, Länge: 79 min, Verleih: Calypso Film