Der stumme Schrei

Mit der Schweizer Erstaufführung von «Prima Facie – ein Kreuzverhör» thematisiert das Berner Theater Effingerstrasse die Defizite bei der Verfolgung und Bestrafung von Sexualstraftätern. Die Inszenierung gibt dem Schrei der Opfer eine Stimme.

Die Zahlen aus der Schweiz und Deutschland schockieren: Weniger als zehn Prozent der Opfer von Sexualverbrechen wagen eine Anzeige gegen ihre Peiniger bei der Polizei. Nicht einmal ein Prozent der Täter werden verurteilt. Ähnlich wie bei den aktuell diskutierten Fällen von missbräuchlichen Übergriffen durch Kirchenvertreter ist auch bei Sexualdelikten im weltlichen Umfeld nur die Spitze des Eisbergs sichtbar. Die Gründe sind vielfältig.

Opfer schämen sich, über das Horrorerlebnis zu sprechen. Täter verharmlosen, machen Druck oder drohen gar mit Konsequenzen. Kommt es zu einer Anzeige, dann beginnen sich die Mühlen der Justiz nur langsam zu drehen. Die dritte Gewalt ist notorisch überlastet. Die juristischen Hürden sind hoch: Vergewaltigungen sind schwierig zu beweisen, die Einvernahmen aufwändig. Oft stehen Aussagen gegen Aussagen. Zeugen gibt es keine, eventuelle Spuren wurden weggeduscht, für immer zerstört.

In der Befragung durch die Staatsanwaltschaft werden Erinnerungslücken offenbar. Denn nicht selten war Alkohol im Spiel. Zudem gilt das Prinzip der Unschuldsvermutung. Der Staat muss – bei einem Offizialdelikt – dem Beschuldigten die Tat beweisen. Damit steht mangels objektiver Beweise eine Kernfrage im Mittelpunkt: Waren die sexuellen Handlungen einvernehmlich, oder waren sie es nicht? Prominente Fälle – von Harvy Weinstein (Hollywood) bis Till Lindemann (Rammstein) – lassen grüssen.

Zum Bühnenspiel

Angriffige und erfolgsgewohnte Anwältin.

Tessa Ensler (gespielt von Dascha von Waberer) ist Rechtsanwältin. Ihr Spezialgebiet ist die Verteidigung von Männern, die wegen sexueller Übergriffe angeklagt wurden. Die Prozesse sind für sie wie ein Spiel, das sie unbedingt gewinnen will. Ob ihr Mandant die ihm vorgeworfenen Dinge getan hat, will sie gar nicht wissen. Sie ist auf der Suche nach den Ungereimtheiten in den Aussagen der weiblichen Opfer, die vor Gericht als Zeuginnen befragt werden.

Im Kreuzverhör versucht Tessa, den sogenannten «Prima-Facie-Beweis» auszuhebeln. Mit dem im angelsächsischen Recht bekannten «Anscheinsbeweis» macht der beschuldigte Mann geltend, dass «nach der allgemeinen Lebenserfahrung und dem Allgemeinwissen» das Opfer mit den sexuellen Handlungen einverstanden war.

An dieser Stelle greift Tessas Strategie: Sie muss nicht beweisen, dass das Opfer den sexuellen Handlungen zugestimmt hat, sondern dass der Täter nicht wusste, dass es kein Einvernehmen zum Sex gab. Auf ihre Weise schafft es die Anwältin immer wieder, an der angeblichen Schuld ihrer Mandaten Zweifel zu säen. So werden – im Theaterstück – die Beschuldigten stets freigesprochen.

Von der Verteidigerin zum Opfer

Ein feuchter Abend verändert alles.

Ihre Erfolge feiert Tessa Ensler dann zusammen mit ihren Anwaltskollegen. Ihr Rat ist in Anwaltskreisen sehr gefragt. Auch Kollege Julian braucht ihre Hilfe. Abends nach der offiziellen Arbeit, bei Wodka und Smalltalk, kommen sich die beiden näher. In Julians Büro schlafen sie miteinander. Wird das eine Beziehung? Fast sieht es danach aus. Doch dann passiert etwas, was Tessa nicht für möglich gehalten hätte.

Beim zweiten Date wird Julian sexuell übergriffig, ignoriert ihre körperliche Abwehr. Staranwältin Tessa versucht zu schreien, doch der Schrei bleibt stumm, denn der Angreifer hält ihr mit Gewalt den Mund zu. Als er sie loslässt, muss sie sich übergeben. Obwohl für die junge Frau alles auf dem Spiel steht, ihre Karriere, ihre Freunde, ihr Privatleben, geht sie zur Polizei und zeigt ihren Kollegen wegen Vergewaltigung an.

Schmerzhafte Einsichten nach dem Übergriff eines Kollegen.

Es kommt zum Prozess. Plötzlich steht sie als Opfer auf der anderen Seite und erlebt den Vergewaltigungsprozess nicht mehr als Verteidigerin, sondern als Zeugin der Anklage. Die Erkenntnisse, die sie dabei gewinnt, verändern ihre Sicht auf das System, auf das Recht und die Machtverhältnisse vollkommen. Ein Beispiel: Es wird ihr vorgeworfen, die Vergewaltigung durch Julian nur erfunden zu haben, um ihren Kollegen beruflich zu diskreditieren.

Schockiert, frustriert und desillusioniert stellt die gebrochene Anwältin zum Schluss fest, dass das geltende Sexualstrafrecht von Männern geschrieben wurde, dass im Ermittlungs- und Gerichtsverfahren Männer den Ton angeben, und dass es bei Sexualdelikten sehr oft um die Ausübung von männlicher Macht geht.

Glaubwürdig und nachvollziehbar

Die Inszenierung (Regie: Petra Schönwald) geht unter die Haut. Dascha von Waberer spielt die vergewaltigte Anwältin absolut glaubwürdig. Der Perspektivenwechsel von der Verteidigerin zum Opfer ist nachvollziehbar. Die emotionale Intensität, die Sprache, die Gestik sind so stark, dass man streckenweise glaubt, die Frau habe die Entwürdigung, die seelischen Verletzungen tatsächlich erlebt. Das schlichte Bühnenbild und die Kostüme (Melanie Kintzinger) sowie die Musik (Robert Aeberhard) betten das dramatische Einfrauen-Stück in eine adäquate Umgebung ein, ohne aufdringlich zu wirken. Um den Bühnenbau gekümmert hat sich Röné Hoffmann. Ein starker Theaterabend an der Effingerstrasse, dessen Botschaft klar und deutlich ist: Das geltende Sexualstrafrecht muss weiter verschärft werden.

Schauspielerin Dascha von Waberer: Glaubwürdig und authentisch.

Das aufwühlende Bühnenstück stammt von Suzie Miller. Sie wurde in Australien geboren, wo sie nach einem Jurastudium als Menschenrechts- und Kinderanwältin arbeitete. In Grossbritannien setzte sie ihre Karriere als Theaterautorin fort. Ihr aufwühlender Monolog «Prima Facie» wurde 2019 in Sydney uraufgeführt. Er wurde nicht nur als Theaterereignis gefeiert, sondern wird seither auch in juristischen Kreisen intensiv diskutiert.

2023 wurde das Stück mit dem Laurence-Olivier-Award, dem wichtigsten Theaterpreis Grossbritanniens, ausgezeichnet. In diesem Jahr eroberte «Prima Facie» auch den Broadway. Die deutsche Übersetzung stammt von Anne Rabe und wird derzeit ausser in Bern auch an mehreren Theatern in Deutschland aufgeführt.

Titelbild: Von der energiegeladenen, souverän auftretenden Anwältin zum gedemütigten Opfer. Tessla Ensler. Alle Fotos: © Severin Nowacki

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Theater an der Effingerstrasse

Aufführungen noch bis zum 20. Oktober 2023

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1 Kommentar

  1. Solange Männer beim Thema Gewalt und die Folgen nicht dazulernen und sie ihr Verhalten nicht bewusst hinterfragen und verändern wollen, wird es weiterhin Gewalt, Krieg und Unterdrückung geben. Für von Gewalt Betroffenen, besonders Frauen und Kinder, kann das keinenur eines heissen: Sich nichts mehr gefallen lassen und Gewalt und sexuelle Übergriffe sofort zur Anzeige bringen und vor allem ohne Scham darüber reden. In einer demokratischen Gesellschaft sollten sich die Menschen auf Augenhöhe und mit Respekt begegnen, andernfalls leben wir in einer Diktatur des Stärkeren. Wollen wir das?

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