Zum ersten Mal präsentiert Cathy Marston eine Uraufführung eigens für das Zürcher Opernhaus-Ballett choreografiert: «Atonement» nach dem Roman von Ian McEwan. Die britische Komponistin Laura Rossi schrieb, in enger Zusammenarbeit mit Marston, dazu die Musik. Das Publikum war begeistert.
Die komplizierte Familienkonstellation im Roman «Atonement» des britischen Schriftstellers Ian McEwan ist vielschichtig und komplex, real und fiktiv, wahr und eine ganz grosse Lebenslüge. Das zu «vertanzen» ist ein Kraftakt, den Cathy Marston mutig in Angriff genommen hat. Subtil und mit einer grossen Lust am Erzählen.
Zu den Fakten: Man schreibt 1935. Auf einem englischen Landsitz lebt die Familie Tallis, Mutter, zwei Töchter, ein Sohn. Dazu eine Cousine und zwei halbwüchsige Cousins, Rotzlöffel, die von allen Seiten her erzogen werden. Und natürlich Hausangestellte – und Robbie, der Sohn der Haushälterin.
Aus Schriftstellerin wird Choreografin
Cathy Marston hält sich eng an die Romanvorlage und gestaltet den ersten Akt auf der Bühne fast wie ein Kammerspiel. Nur die jüngste Tochter Briony (tänzerisch und schauspielend überzeugend Inna Bilash) bekommt ein neues Image verpasst: Statt Schriftstellerin will sie Tänzerin, Choreografin werden. Passt auch besser in eine Ballettproduktion und ist zudem schlüssig: Statt mit Schrift auf dem Papier erzählt sie mit der Sprache ihres Körpers. Als kindliche 13-Jährige tanzt, nein wirbelt sie über die Bühne, und versucht die Familie dazu zu bringen, bei ihrer ersten Choreografie mitzumachen. Was natürlich misslingt.
Inna Bilash als Briony, die zentrale Figur in «Atonement». (Alle Bilder Opernhaus Zürich/ Admil Kuyler)
Dafür bekommt das Mädchen erste zarte Liebesbande zwischen Robbie (ein Bild von einem Mann, Brandon Lawrence, kraftvoll und zärtlich) und ihrer älteren Schwester Cecilia (anmutig und fast zerbrechlich Max Richter) mit. Und damit beginnt «Atonement», was auf Deutsch mit «Abbitte» übersetzt wird, aber auch Vergebung oder Schuld heissen könnte.
Denn Lola, Brionys Cousine (McKhayla Pettingill), wird in der traumverlorenen Kulisse einer englischen Landschaft (Bühnenbild Michael Levine) vergewaltigt, und Briony, die sich zurückgesetzt fühlt und ihrer Schwester das zarte Liebesglück neidet, klagt Robbie an, der daraufhin ins Gefängnis muss.
Cecilia (Max Richter) und Robbie (Brandon Lawrence) im Pas de deux.
Dieser erste Akt geht unter die Haut. Nicht nur der Handlung wegen, auch, weil Tanz und Musik so eng miteinander verflochten sind. Es ist Ballettmusik, wie es seit dem späten 17. Jahrhundert immer wieder Brauch war, eigens für diese Produktion geschrieben. Wenn Briony über die Bühne tanzt, ganz in ihre Zukunftsfantasien versunken, schwingt in der Musik von Laura Rossi ein dunkler, fast drohender Unterton mit. Diese enge Verbindung zwischen Musik und Choreografie zieht sich durch das ganze Stück. Wunderbar!
Es ist Krieg
Im zweiten Akt ist Krieg. Soldaten marschieren, Frauen arbeiten in den Lazaretten und Spitälern oder halten den Alltag in den Städten und Dörfern am Laufen. Das Corps de ballet hat hier seine grossen Auftritte. Sei es auf dem Exerzierplatz, im Spital – Leintücher synchron falten und das auf Spitze, ist anmutig und witzig zugleich – und Briony, nun zur jungen Frau gereift, versucht sich als Helferin bei den Balletttrainings an der Stange und später als Sanitäterin. Und wieder fällt ihre Verlorenheit auf, ihr Abseitsstehen. Sie ist sich ihrer Schuld, zwei junge Leben zerstört zu haben, bewusst und will sich selbst beweisen, dass sie durch ihre Arbeit etwas gutmachen kann.
Exerzieren auf der Bühne des Opernhauses …
Das wird im dritten Akt deutlich. Es ist 1999, der Krieg lange vorbei und alles wieder, wie es sein soll. Es wird gefeiert: Robbie und Cecilia werden, umgeben von Familie und Freunden, feierlich getraut. Irritierend ist nur, dass sie immer noch so jung wie 1935 sind, während Briony als gereifte Frau danebensteht. Wieder daneben, abgelehnt, ausgeschlossen. Dann fällt der Vorhang. Ende. Schlussapplaus.
… und im Lazarett.
Aber im Zuschauerraum bleibt es dunkel. Und als sich der Vorhang wieder hebt, geht das Stück weiter. Mit Old Briony (Shelby Williams) hat eine neue Figur die Führung übernommen. Ihre Stimme kommt auf dem Off (Kate Strong) und sie erzählt, wie es wirklich war: Robbie starb im Krieg, 1940, an einer Blutvergiftung und Cecilia kam nur wenige Monate später bei einem Bombenangriff in London ums Leben.
Ankommen in der Realität
Die heile Welt von 1999 existiert nur in Brionys Choreografie. Sie tanzt sich ihren Verrat, die bittere Wahrheit, das Leben ihrer Schwester und ihrem Geliebten zerstört zu haben, schön. Um sich selber von der Schuld reinzuwaschen? Wohl eher, um mit dieser Lebenslüge weiterleben zu können, sie mit ihrer Kreativität zuzudecken. Atonement. Abbitte.
Mittendrin und doch daneben: Briony mit ihrer Schwester und Ronnie, ein Bild, das nur in Brionys Vorstellung existiert.
Das ist die Geschichte zum Ballett, der ersten Produktion von Cathy Marston für das Zürcher Opernhaus. Und sie erzählt sie mit bezaubernder Leichtigkeit., führt die ganze Compagnie mit einer sehr speziellen Tanzsprache durch die Handlung. Sie vermischt Elemente des klassischen Balletts mit neuen Bewegungen – durchgestreckten Beinen mit angewinkelten Füssen zum Beispiel – und verlangt den Tanzenden höchste, manchmal fast artistische Beweglichkeit ab. Für eine getanzte Geschichte, die der Realität entnommen, durch ihre Dramatik fast surreal wirkt.