Lebende Bücher

In der ZHAW Hochschulbibliothek in Winterthur traten am Samstag, 13. April an einer öffentlichen Veranstaltung acht «lebende Bücher» mit Interessierten in einen Dialog mit dem Ziel, Stereotypisierungen abzubauen und den Horizont durch direkte Begegnungen zu erweitern. Seniorweb hat die Veranstaltung besucht.

«Lebende Bücher» sind Angehörige von Personengruppen, die sich in einer «lebenden Bibliothek», einer Living Library, dem persönlichen Gespräch stellen. Mit Minderheiten und Ausgegrenzten in Kontakt zu treten und zu kommunizieren, reduziert Scheu vor «Fremden» und fördert Toleranz und Verständnis. Nachdem die erste Living Library im Jahre 2000 an einem Musikfestival in Dänemark zur Vorbeugung gegen Gewalt und Vorurteile organisiert wurde, führten u.a. Schulen, Festivals, Kongresse und auch Bibliotheken das erfolgversprechende Konzept ein. Mittlerweile gibt es Living Libraries auch in der Schweiz, etwa in Bern, Basel, Zürich, Zug und neu auch an der ZHAW Hochschulbibliothek.

An der von Studierenden des ZHAW-Bachelorstudiengangs Ergotherapie und der ZHAW Hochschulbibliothek organisierten Veranstaltung erlaubten folgende acht lebende Bücher öffentliche Einblick in ihre Welt: Die Fachperson für Palliative Care Ankie van Es; die mit 23 Jahren auf einer Weltreise zur Tetraplegikerin gewordene Daniela Moor; der mit Spina Bifida zur Welt gekommene und vor sechs Jahren erblindete David Herzmann; der mit der Diagnose «Schizoaffektive Störung» lebende Musikliebhaber Erik Nilsson; Joëlle Lynn Dreifuss, welche mit 33 die Spätdiagnose «Autismus» erhielt; die 16-jährige Livia Keller mit einer Zerebralparese; die beiden Hebammen Vanessa Grossholz und Sophia Favero. Im Vorfeld der Living Library konnten die Teilnehmenden Dialoge mit drei «lebenden Büchern» auswählen. Hier ein Einblick in drei je halbstündige Dialoge in einer bewusst klein gehaltenen Gruppe von je ca. 6-10 Personen.

Ankie van Es arbeitet seit 2003 als Pflegefachperson im Bereich Palliative Care. Nach  einigen Jahren in der stationären Pflege von Sterbenden am Universitätsspital Zürich, machte sie einen Abstecher ins Kantonsspital Aarau und wechselte vor einigen Jahren zu Palliaviva in die ambulante Palliative Care Arbeit. Alle Interessierten konnten Auskunft erhalten über die Fragen, die sie am meisten interessierten: Letzte Worte der Sterbenden? Formen der Pflege in der Sterbephase? Begleitung der Angehörigen in ihrer Trauerarbeit? Schwierige Gespräche? Finanzielles? Letzte Tage? Zusammenarbeit mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern, mit Sterbehilfeorganisationen, mit der örtlichen Spitex? Emotionale Herausforderungen mit Sterbenden und Angehörigen?  Auf die Frage, was sie an ihrem Job am meisten liebe, antwortete Ankie van Es: Die Menschen! Sie sei sehr dankbar, dass sie teilnehmen könne an intimen Phasen des Sterbens und sie professionelle Hilfe für Sterbende und Angehörige anbieten könne. Sie versuche immer respektvoll und mit professionellem Hintergrund auf die vielen Formen des Sterbens empathisch und persönlich einzugehen.

Erik Nilsson erhielt mit 17 die Diagnose «Bipolare Störung», nachdem er seit seiner Kindheit an Depressionen litt. Drogen- und Alkoholkonsum führten dazu, dass er die Kantonsschule verlassen musste und später die Erwachsenenmatura machte. Vor drei Jahren wurde ihm die Diagnose «Schizoaffektive Störung» gegeben, was ziemlich schnell zu einer Invalidenrente führte. Nach zwei Semestern Studium in Geschichte und Germanistik reifte in ihm die Einsicht, dass in seiner momentanen Situation das Abschliessen eines Studiums nicht Ziel sein könne. Die Begleitung durch Psychiater, Psychotherapeuten und eine Selbsthilfegruppe, Klinikaufenthalte sowie die Einnahme von Antipsychotika und Antidepressiva liessen ihn schwierige Lebensphasen durchstehen. Dank einer Alkoholentzugskur ist er seit einem Jahr trotz zwei Rückfällen abstinent geworden und wohnt allein in einer Wohnung. Er lässt sich nicht mehr stigmatisieren, auch wenn er gelegentlich als «fauler Sack» tituliert wird. Musik begleitet ihn durch alle Emotionen. Er hat auch mit östlichen Meditationsmethoden gelernt sich zu akzeptieren, so wie er im jeweiligen Augenblick ist. Er möchte, dass auch andere, die sich in schwierigen Situationen befinden, sich akzeptieren lernen und Momente der Lebensfreunde erfahren. Ihm schwebt vor, als Peer-Worker zu arbeiten und andere zu unterstützen im Suchen und Finden einer würdevollen Lebensweise, auch wenn man aufgrund psychischer Schwierigkeiten von gewissen Leuten ausgegrenzt wird. Für den Einblick in dieses «lebende Buch» bedankten sich die Teilnehmenden mit einem lange anhaltenden Applaus.

Joëlle Lynn Dreifuss erhielt die Diagnose «Autismus» erst mit 33 Jahren, nachdem sie bereits ab sieben «verhaltensauffällig» war. So stand in Schulzeugnissen immer wieder die Bemerkung, dass sie sich kaum integriere und einzelgängerisch unterwegs sei. Mit sieben wurde bei ihr Diabetes Typ I diagnostiziert. Die aufgrund der Diagnose erforderliche präzise Tagesplanung befriedigte auch damals bereits vorhandene autistische Bedürfnisse nach einem geordneten Alltag. Sie empfindet bis heute das Zusammensein mit anderen Leuten schnell als «Sozialstress». Trotzdem führt sie nun ein relativ selbständiges Leben, wohnt alleine mit ihrem Assistenzhund «Rocky» und arbeitet beim Universitätsspital Zürich im Datenmanagement. Mit ihrem Hund schafft sie die Beziehung zur Aussenwelt und benutzt mit ihm den ÖV. Sie braucht ein sehr geregeltes Leben, einen möglichst klar durchstrukturierten Alltag vom Aufstehen bis zum Schlafengehen. An aussergewöhnlichen Tagen, wie am Tag, als sie sich als «lebendes Buch» zur Verfügung stellte, machte sie ein sehr detailliertes Tagesprogramm, auch mit Piktogrammen. Am anschliessenden Apéro konnte sie «selbstverständlich» nicht teilnehmen wegen «zu viel Sozialstress». Sie engagiert sich zudem bei Autismus Schweiz, macht Aufklärungsarbeit und unterstützt von Autismus Betroffene in einer möglichst selbständigen Lebensführung.

Auf die Frage von Seniorweb, ob die ZHAW Hochschulbibliothek immer mehr zu einer Living Library werde, antwortete Dieter Sulzer von der ZHAW Bibliothek:

«Seit einiger Zeit organisieren wir Veranstaltungen, mit denen wir einerseits neue Formen der Wissenschaftskommunikation betreiben, anderseits eine vielfältige Nutzung unserer attraktiven Räumlichkeiten fördern möchten. Dazu gehören die Living Library, Spielabende mit Studierenden, Events in der Cafeteria ausserhalb der Öffnungszeiten, Veranstaltungen für Gerontologie. Neu haben wir an allen drei Standorten eine Saatgutbibliothek eröffnet. Da geht es darum, dass die Biodiversität gefördert werden kann, indem wir Saatgut für seltene Pflanzenarten anbieten und in Umlauf bringen. Mit diesen Aktivitäten versuchen wir Hochschulangehörige wie Externe zu erreichen. Das Schaffen eines ruhigen Lernorts bleibt aber nach wie vor ein Hauptangebot der Bibliothek von sehr hoher Priorität. Vor allem bei intensiven Prüfungsphasen sind alle Arbeitsplätze belegt und wir können nicht noch zusätzliche Events stattfinden lassen. Zwischendurch können wir aber die gute Infrastruktur für attraktive und gut besuchte Anlässe nutzen.»

Titelbild: Interessierte versammeln sich zum Living Library-Anlass im Eingangsbereich der ZHAW Bibliothek (Foto aus dem zweiten Zwischengeschoss). Alle Fotos von Beat Steiger. Der Autor dankt den beteiligten Personen für deren explizite Genehmigung, sie fotografieren und zitieren sowie ihre Porträtfotos veröffentlichen zu dürfen.

 

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