StartseiteMagazinGesundheitJürg Willi: "Sich im Alter brauchen lassen"

Jürg Willi: «Sich im Alter brauchen lassen»

Heute wäre Jürg Willi 90 Jahre alt geworden. Er war bis 1999 Direktor der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Zürich und ordentlicher Professor der Uni Zürich für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Krankheiten. Er ist vor knapp 5 Jahren von uns gegangen. Was rät er den Älteren posthum?

Jürg Willi hat sich einen Namen gemacht als Zürcher Paar- und Familientherapeut und seine Bücher «Die Zweierbeziehung», «Therapie der Zweierbeziehung» «Ko-Evolution» und andere wurden von Hundertausenden gelesen. Altersfragen erscheinen da eher am Rande. Aber kurz nach seiner Emeritierung, vor gut 20 Jahren ist ein Artikel von ihm erschienen mit dem Titel «Sich im Alter brauchen lassen – ein notwendiger Einstellungswandel.» Daraus sollen einige Gedanken in Erinnerung gerufen werden.

  1. Alte fühlen sich nicht ernst genommen.

Alte würden aus dem aktiven Leben in den «Ruhestand», in die «retraite», ins «retirement» geschickt und es werde nicht gefragt, «was können die Alten für uns tun», sondern «was können wir für die Alten tun». Alte fühlten sich oft nicht ernst genommen, es werde von ihnen auch nicht Ernstzunehmendes erwartet und sie würden sich selbst oft nicht um eine ernst zu nehmende Lebensgestaltung bemühen. In der Fachliteratur unterscheide man zwei Tendenzen von älteren Menschen: Erstens diejenigen, die sich gemäss der Disengagement-Theorie verhalten, sich keinen beruflichen Erfolg mehr erhoffen und Anerkennung für früher geleistete Dienste erwarten. Sie fühlen sich befreit vom Aktivitätszwang und sehnen sich nach Rückzug. Zu ihren Tugenden gehört, «sich weise zu bescheiden und das Leben zu geniessen». (S. 92). Demgegenüber steht zweitens die Aktivitäts- oder Ausgliederungsthese. Es gelte, aktiv zu sein und im Unruhestand pausenlos herumzuagieren mit «Carfahrten, Wanderungen, Altersturnen, Memory-Training, Bastelkursen, Erzählkaffees, Tanzabenden usw.» (S. 92)

2. Folgen der Altersdefinition «Ruhestand»

Der «Ruhestand» führe zu unterschiedlichen Leitvorstellungen:

  • Leitvorstellung «Freiheit im Alter»: Wer dieser Leitvorstellung folgt, muss sich nicht mehr verbindlich einlassen, «man darf sich unabhängig und unverpflichtet verhalten» (S. 96). Man könne sich eine gewisse Gleichgültigkeit erlauben, verliere «damit aber auch leicht die Einbindung in Beziehungsprozesse und die damit einhergehende Bestätigung und Korrektur.
  • Leitvorstellung «Ein sorgenfreies Leben führen»: Wer sich sorgt, müsse sich um das zu Besorgende kümmern und müsse sich mit Mitmenschen über das Sorgenthema austauschen. «Wer die Lösung seiner Probleme anderen übergibt, gerät in Abhängigkeit und Fremdbestimmung.» (S.96)
  • Leitvorstellung «Man möchte ganz für sich sein». Rückzug fordere wenig heraus, man erlebe wenig Impulse von der Umgebung, was «eine egozentrische und ängstlich-defensive Einstellung» (s. 96) fördere.
  • Ruheständler würden «hinter vorgehaltener Hand» oft als «kompliziert, unsicher, ängstlich, unentschlossen, rechthaberisch, starr, pedantisch, kleinlich, misstrauisch, missgünstig, unzufrieden, nörglerisch, zerstreut, vergesslich, inkompetent, desinteressiert, uninteressant, anspruchsvoll, geltungssüchtig, bequem, unengagiert, schwatzhaft» (s. 97) gelten – eine Folge der Versetzung in den Ruhestand?

3. Ausüben sinnvoller Tätigkeiten

Für Jürg Willi trägt die Wellness-Kultur mit Übungen zur körperlichen und geistigen Fitness schon zum Wohlbefinden bei. Aber – «Was Alte benötigen, ist das Ausüben sinnvoller Tätigkeiten, Tätigkeiten, die die Anerkennung anderer finden und von Nutzen für andere sind…Wenn niemand mehr auf einen wartet und niemand mehr etwas von einem erwartet, ist man im sozialen Sinne tot.» (S. 98)

Deswegen sei Freiwilligenarbeit empfehlenswert, etwa wenn man sich «in unspektakulärer Weise um vereinsamende Menschen» (S. 101) kümmert oder wenn man Beziehungsarbeit leistet und sich Menschen zuwendet, die Hilfeleistungen benötigen. Die Grosselternschaft, die Unterstützung der Kinder und die Betreuung von Enkeln sei «die häufigste und begehrteste produktive Tätigkeit im Alter» (S. 101). Pflegetätigkeiten in der Partnerschaft können ebenfalls erfüllend, aber auch problematisch sein, «nämlich die enge Zweisamkeit und Überbezogenheit aufeinander.»(S. 102)

Willi entkräftet den Einwand, die oben genannten sinnvollen Aktivitäten seien nur für die jungen, rüstigen Alten möglich. Auch im hohen Alter bei Gebrechlichkeit gebe es noch schöne Beziehungs- und Sorgeformen.

4. Eheprobleme im Alter

Wenn Herausforderungen ausserhalb des Hauses ausbleiben, würde bei vielen das eheliche Zusammenleben zu einem zentralen Lebensinhalt, was Zweierbeziehungen belaste, wenn Anforderungen in Beziehungen erhöht würden «durch Erwartungen, die an einen gestellt werden; durch Übernahme von Verantwortung; durch Verbindlichkeit und Verpflichtung; durch Zielorientierung, Ergebniskontrolle, Kritik; durch Wettbewerb und Rivalität; durch Meinungsverschiedenheiten, Konflikte, Auseinandersetzungen; durch persönliche Öffnung und Zeigen von Emotionen; durch Enttäuschungen, Kränkungen, Leid» (S. 105). Der Paartherapeut Willi kennt sich aus in all den Konfliktfeldern von Zweierbeziehungen im Alter, wenn die Aussenweltbezüge abnehmen.

5. Schlussfolgerungen

Willis Schlussfolgerungen sind schnörkellos: «Ruhestand und der Anspruch, es im Alter schön zu haben und ein sorgenfreies Leben zu führen, sind lebensfeindliche Vorstellungen, die mit einer gesunden Lebensführung schwer vereinbar sind. Leben ist mehr als körperlich aktiv sein, Gedächtnisfunktionen üben, kulturelle Veranstaltungen besuchen oder sich an Reisen erfreuen. Menschen sind dialogische Wesen. Sie stehen mit ihrer Umwelt in ständigem Gespräch und Austausch.» (S. 107) Den Austausch mit der Umwelt gelingt nach Willi am besten, wenn man sich auch im Alter herausfordern lässt: «Sich von Herausforderungen ansprechen zu lassen, ist das beste Mittel, um im Alter gesund und sinnerfüllt zu leben. Der Hinweis auf früher geleistete Arbeit und frühere Verdienste ist in der heutigen schnelllebigen Zeit keine Basis mehr für ein sinnerfülltes Leben und ein positives Selbstwertgefühl. Menschen im Alter müssen so leben, dass man sie in ihrer gegenwärtigen Lebensweise ernst nehmen kann und sich selbst ernst nehmen können.» (s. 107)

Aus der Sicht von Jürg Willi ist das Ausüben sinnvoller Tätigkeiten wesentlich für ein gutes Altern. Was sinnvoll ist, hängt ab von der eigenen Biographie, den Wertvorstellungen, allfälligen Beeinträchtigungen und den Umweltbedingungen. So gesehen sind Alternde in ihrem Tun, Erleben und Interagieren bei wechselnden inneren und äusseren Bedingungen eingeladen, weiterhin kreativ unterwegs zu sein und was sinnvoll erscheint auszuprobieren. Daraus könnte eine neue Alterskultur entstehen, wozu er vor gut 20 Jahren schon aufgerufen hat. Genauer gesagt, könnte daraus eine wichtige Phase einer neuen Alterskultur werden. Zu einer umfassenderen Alterskultur gehört nämlich auch ein sinnvoller Umgang mit der Sterblichkeit des Menschen. Aber das ist eine andere Geschichte… und die beiden Geschichten sollten einander ergänzen und bereichern

Literatur: Jürg Willi: Sich im Alter brauchen lassen – ein notwendiger Einstellungswandel. In: Brigitte Boothe, Bettina Ugolini (Hrsg.):  Lebenshorizont Alter. Vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich. 2., unveränderte Auflage 2005, S. 91 -108

Titelbild: Jürg Willi, zvg. vom Institut für Ökologisch-systemische Therapie, das Jürg Willi nach seiner Emeritierung mitbegründet hat.

 

 

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