Im Basler Kupferstichkabinett werden rund 300’000 Werke aufbewahrt. Etwa 200 zeitgenössische, vor allem kürzlich erworbene Zeichnungen können zur Zeit im Kunstmuseum Basel angeschaut und studiert werden.
«Zeichnung heute. Neu in der Sammlung», so der Titel der gegenwärtigen kleinen Ausstellung. «Heute» und «neu», beide Begriffe weisen auf eine Aktualität hin, die der Besucherin einleuchtet, kaum dass sie in die Ausstellungsräume tritt. Denn die Zeichnung hat sich im Laufe der Jahrhunderte – der Jahrtausende –verändert. Mit dem traditionellen Zeichenunterricht in der Schule hat sie sowieso nur wenig gemein.
Zeichnungen dienen nicht nur der Vorbereitung eines grösseren Werks, in Form von Skizzen, oder um die Möglichkeiten einer Darstellung zu studieren. Die in Basel ausgestellten Zeichnungen sind kleine Kunstwerke sui generis, seien sie abstrakt oder figurativ, ausdrucksstark sind sie allemal. Sie sind Themen gewidmet, die uns heute bewegen.
Alle Werke der neun Künstlerinnen und Künstler sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder im 21. Jahrhundert entstanden. Miriam Cahn (*1949 in Basel) ist die älteste, der britisch-kenianische Maler Michael Armitage (*1981 in Nairobi) der jüngste.
Miriam Cahn, Morgengrauen (mit gelben Augen) 1981. Kohle und gelbe Kreide auf Transparentpapier
Die Künstlerinnen – sieben der neun sind Frauen – benutzen für ihre Arbeiten Farbstifte, Kohle, Tusche, manchmal Aquarellfarben und Pinsel. Oft ist es ein Spiel mit Linien, zerbrechlichen Formen, aber auch mit ganz breiten Strichen. Die in Basel lebende Künstlerin Maja Rieder (*1979 in Niederbipp) benutzt einen breiten Pinsel für ihre Zeichnungen – auf diesem Wort besteht sie. Sie beginnt auf grossen Papierbögen, trägt die Gouachefarbe oder Tinte unter Einsatz ihres ganzen Körpers auf. Das Falten, das anschliessende Wiederauseinanderfalten und Aufhängen gehören zum Arbeitsprozess. Die Wirkung dieser Werke beeindruckt: An der Wand scheint das grosse Bild wie ein Geflecht dreidimensional.
Maja Rieder, Tapis Jaune, 2014 / 2017. Gouache.
Was die Zeichenarbeiten von «gewöhnlichen» Gemälden – soweit diese heutzutage noch geschaffen werden – unterscheidet, sind nicht nur die Werkzeuge wie Pinsel usw., sondern auch die Materialien, auf denen die Zeichnungen entstehen: Papier in vielen Formen und Qualitäten, die Farbe des Papiers, alles spielt bei einzelnen Kunstschaffenden eine Rolle. Wichtig ist auch, wie die gewählte Farbe vom Papier aufgenommen wird. Pélagie Gbaguidi (*1965 in Dakar, lebt in Brüssel) benutzt Seiten alter Bücher für ihre Arbeiten und fügt einzelne Wollfäden ein, in diesem Zusammenhang ein besonders originelles Material. Wirkt doch ein roter Wollfaden, der aus dem Werk herunterhängt wie eine bewegliche Linie, die über die Ränder des Bildes reicht.
Pélagie Gbaguidi, Chaîne humaine, 2022. (Ausschnitt) Wachspastell und Farbstift auf historischer Buchdoppelseite, stellenweise perforiert.
Die japanisch-schweizerische Künstlerin Leiko Ikemura (*1951 in Tsu/Japan, lebt in Berlin) begann als Zeichnerin, inzwischen ist sie für ihre Gemälde und Skulpturen bekannt. Die Ölkreide dient den Konturen, die Aquarellfarbe, nass in nass aufgetragen, schafft die Atmosphäre und lässt das Sujet verschwimmen, als wäre noch nicht ganz klar, was aus den Formen wird. Die Werke von Leiko Ikemura entstehen in dem Moment, da eine Idee oder ein Bild wie das Leben im allgemeinen erst im Werden ist. Nichts ist schon fertig.
Leiko Ikemura, CP Summer, 2018. Aquarell und Ölkreide
Die Malerei von Renée Levi (*1960 in Istanbul, lebt in Basel) ist geprägt von Linien in allen Formen, Kringeln, Wellen oder Schlaufen. Ihre Zeichnungen sind parallel zu ihrer Malerei entstanden, früher hat sie sie vor allem als Teil ihres Schaffensprozesses angesehen, erst seit 2012 ist Levi bereit, die Zeichnungen auszustellen. Es ist ein Spiel zwischen Zufall und Kontrolle, wobei auch die Qualität des Papiers wichtig ist: Je nachdem, wie es die Farbe aufnimmt oder abstösst, entstehen unterschiedliche Effekte.
Renée Levi, ohne Titel (2012), Tinte auf gestrichenem Papier, zwei Blätter, mittig mit Klebestreifen verbunden (Foto mp)
Die Werke von Martin Assig (*1959 in Schwalm, lebt in und um Berlin) sind separat ausgestellt, im älteren Teil des Kunstmuseums, direkt vor dem Eingang ins Kupferstichkabinett. Diesen Teil der Ausstellung sollten Sie nicht verpassen.
Martin Assig, Menschenmensch, 2023. Tusche ( Foto mp)
Assig arbeitet vor allem mit Tusche und Pinsel in kleinen Formaten. Seine Arbeiten stehen der traditionell verstandenen Zeichnung formal am nächsten, übersteigen aber inhaltlich die physischen Formen. Hinter den Fragmenten, den Kleidern oder Hüllen, den Körperteilen sind es die Seelen der Menschen, ihre unfassbaren Erscheinungen, die Assig zum Vorschein bringen will. Spiritualität ist dem Künstler wichtig, die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit prägt ihn. Seine kleinen Blätter strahlen menschliche Befindlichkeiten wie Angst und Schmerz aus – und Poesie.
Miriam Cahn (*1949 in Basel) ist durch ihre kompromisslose feministische Einstellung und der daraus entstandenen ebenso unbedingt frauenbetonten Malerei bekannt geworden. Ihre künstlerischen Anfänge liegen wie bei vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Zeichnung. Sie arbeitet dabei oft mit Kohle und oft in Serien (s. oben), setzt ihre Hände, Füsse, ja ihren ganzen Körper ein. Besonders beeindruckt war die Besucherin von zwei kleineren Werken, die Miriam Cahn in der Folge des Bosnienkrieges geschaffen hat. Die Schrecken der Zerstörung und die pure Zerstörung selbst hängen nebeneinander – zusammen ein schreiender Protest, der auch heute noch laut werden muss.
Miriam Cahn: Sarajewo, 10.8.92. entstanden 1993; links: Pinsel in Schwarz, rechts: Fingerfarbe. (Foto mp)
Es sind Alltagseindrücke, die Silvia Bächli (*1956 in Baden) in einer Installation von 18 Zeichnungen darstellt, Dinge oder die Bewegung einer Hand. Darüber hängen sechs Variationen des Oberkörpers einer Frau mit nackten Brüsten, aber ohne Gesicht. Dennoch fühlt sich die Betrachterin beobachtet – als würde die Nachbarin aus dem Fenster schauen. Der Titel geht auf einen Reim des 19. Jahrhunderts zurück, der bis in die 1960er Jahre mit Kindern gesungen wurde, bis man sich seinen rassistischen Inhalt bewusst machte. Silvia Bächli spielt hier mehr auf die Rolle der Frau und ihre Körperlichkeit an.
Silvia Bächli: «Ist die schwarze Köchin da?», 1988. Diverse Techniken Gouache, Ölkreide, Ölpastell, Kohle, Tusche und Text mit Tintenstrahldruck (Foto mp)
«Die Zeichnung war noch nie so frei wie heute», lesen wir in der Ankündigung des Museums. Das erfahren wir in unserem gemächlichen Rundgang. Die Vielfalt der gegenwärtigen Kunst, Zeichnungen zu verfertigen, wird augenfällig. Obwohl die Ausstellung nicht sehr viel Raum einnimmt, lohnt es sich, genug Zeit einzuplanen. Die vorwiegend kleinen Formate verdienen genaue Betrachtung.
Zeichnung heute. Neu in der Sammlung.
Kunstmuseum Basel / Neubau und Hauptbau.
Bis 5. Januar 2025
Titelbild: Silvia Bächli, Ohne Titel, 2011, Acryl
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