Um 1900 begannen junge Kunstschaffende in München, die Kunst zu revolutionieren. Eine aktive Rolle bei der Entstehung des Münchner Jugendstils spielte der Schweizer Künstler Hermann Obrist. Mehrere seiner Werke sind derzeit in der Kunsthalle München ausgestellt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit rasanter wissenschaftlicher und technischer Neuerungen, beteiligten sich Künstlerinnen und Künstler wie Richard Riemerschmid, Peter Behrens, Sophie Burger-Hartmann, Otto Eckmann, August Endell, Elisabeth Erber sowie Margarethe von Brauchitsch an der Suche nach einem gerechteren und nachhaltigeren Leben. Sie wandten sich von historischen Vorbildern ab, um gesellschaftliche Umbrüche zu begleiten und zu einer neuen Kunst zu finden. Ihre Ideen und Entwürfe bilden die Grundlage für den Münchner Jugendstil.
Im grossen Saal der Münchner Kunsthalle sind Jugendstil-Werke bedeutender Kunstschaffender zu sehen.
Mit über 400 Objekten aus Malerei, Grafik, Architektur, Skulptur, Fotografie, Design und Mode beleuchtet die Ausstellung „Jugendstil“ in der Kunsthallle München die Rolle der Stadt als Wiege des Jugendstils in Deutschland und zeigt, wie aktuell die schon damals diskutierten Lebensfragen heute noch sind. Ausgestellt simd auch zahlreiche Werke des Schweizers Künstlers Hermann Obrist, eines Mitbegründers des Münchner Jugendstils.
Bowle aus Kupfer (Obrist 1905).
Der Bildhauer, Zeichner, Möbeldesigner und Sticker wurde 1862 als zweites von vier Kindern des Schweizer Arztes Carl Kaspar Obrist und der schottischen Adligen Alice Jane Grant Duff of Eden in Kilchberg geboren. Der Dirigent und Musikwissenschaftler Alois Obrist war sein jüngerer Bruder.
1876 trennten sich die Eltern und der junge Obrist übersiedelte mit seiner Mutter nach Weimar. 1885 begann er ein Studium der Medizin und Naturwissenschaften in Heidelberg, das er jedoch 1887 aufgab.
Porträt von Hermann Obrist (Fotograf unbekannt).
Bei einer Reise 1887 Reise nach England und Schottland lernte Obrist das Arts and Crafts Movement kennen. Zurückgekehrt widmete er sich der Herstellung von Keramiken in Jena, was zum Bruch mit der Mutter führte, weil er seine Werke ausstellte und verkaufte.
Anschliessend studierte Obrist an der Kunstgewerbeschule in Karlsruhe. 1889 besuchte er die Weltausstellung in Paris und zog ganz dorthin, um an der Académie Julian Bildhauerei zu studieren. In dieser Zeit lernte er die Werke Auguste Rodins kennen. Erste Porträtbüsten und Wandbrunnen entstanden.
Gipsskulptur „Modell Bewegung“. (Obrist 1914).
1892 übersiedelte er nach Florenz, wo er als Bildhauer arbeitete. Die Werke sind nur in Fotografien überliefert. In Florenz lernte er auch den amerikanischen Kunsthistoriker Bernard Berenson und dessen Lebensgefährtin und spätere Ehefrau, die Kunstkritikerin Mary Smith Costelloe, kennen. Unter der Führung der Gesellschaftsdame seiner Mutter, Berthe Ruchet, gründete er ein Stickereiatelier mit italienischen Kunststickerinnen, das er 1895 mit nach München brachte. 1895 entstand in Schwabing in der Karl-Theodor-Straße das erste Ensemble des Münchner Jugendstils.
Bettüberwurf aus Seide (Obrist, 1895),
Internationale Aufmerksamkeit erlangte Obrist dann mit der Ausstellung seiner Stickereien im Kunstsalon Littauer in München, die seinen Ruf als Exponent des Jugendstils begründete. Im gleichen Jahr zeigte er erstmals einen Grabmalsentwurf bei der Jahresausstellung im Münchner Glaspalast.
1898 gründete er mit August Endell, Richard Riemerschmid und Bernhard Pankok die Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk, um die Produktion und den Verkauf der neuen Kunstrichtung zu fördern. 1902 war er mit Wilhelm von Debschitz an der Gründung der Lehr- und Versuch-Ateliers für angewandte und freie Kunst beteiligt. Ihr Lehrplan, der die Verbindung von Handwerk und künstlerischer Ausbildung zum Ziel hatte, wird heute als Vorläufer des von Walter Gropius gegründeten Bauhauses angesehen.
Serviertisch aus dem Speisezimmer (Obrecht ca. 1899)
Weil er immer schlechter hörte, zog sich Obrist 1904 aus der Lehre zurück und arbeitete in den folgenden Jahren an seinen Entwürfen für Grabmäler und Brunnen. Während des Ersten Weltkriegs zog er sich ins Privatleben zurück und erkrankte schwer. Der letzte öffentliche Auftritt seiner Werke fand 1909 in Berlin statt. Obrist starb 1927 in München.
Genaues Naturstudium
Obrists Werke sind von der intensiven Auseinandersetzung mit der Natur und ihren u. a. von Ernst Haeckel neu entdeckten mikroskopischen Strukturen geprägt. Seine Pflanzenornamente zeichnen sich gleichermassen durch genaues Naturstudium wie durch eine dynamische Belebung der Form aus. In der Skulptur suchte Obrist ebenfalls völlig neue Formen. Die dekorativen Aufgaben des Grabmals und des Brunnens boten ihm dabei die Möglichkeit, nahezu abstrakte Formen in dieser eigentlich konservativen Kunstgattung zu schaffen, bevor die Abstraktion in Deutschland öffentliche Anerkennung fand. Doch auch Obrist blieb Anerkennung weitgehend verwehrt und sein Werk geriet bis in die 1960er Jahre in Vergessenheit.
Truhe aus Eiche (Obrist, 1897). Sie stand in der Internationalen Kunstausstellung in Paris.
Das zeichnerische Werk und ein Teil des schriftlichen Nachlasses befindet sich heute in der Staatlichen Graphischen Sammlung München. Ein wesentlicher Teil der Entwürfe für Brunnen und Grabmale überlebte den Brand des Atelierhauses, da es den Töchtern Obrists gelang, die Werke Anfang der 1940er Jahre der Stadt Zürich zu stiften. Sie werden heute vom Museum für Gestaltung Zürich bewahrt. Stickereien befinden sich ebenda und in der Neuen Sammlung in München sowie im Museum für angewandte Kunst (Wien).
Titelbild: Der von Obrist gestickte Wandbehang mit „Alpenveilchen“ hing ab 1896 in der damals viel beachteten Schaufensterauslage des „Kunst-Salon Littauer“. Die goldfarbene Seidenstickerei prangt auf einer fast zwei Meter hohen Stoffhülle aus Wolle. Das Werk wird stilistisch mit einem Peitschenhieb assoziiert. Großer Wandbehang mit Seidenstickerei («Peitschenhieb»), 1895, Leinen mit Seidenstickerei, 119 cm x 183 cm, Münchner Stadtmuseum. Fotos PS/zVg
Ausstellung bis 23. März 2025
Link