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Was Konzerne verantworten müssen

Ich betone jeweils gerne das Verbindende, beginne nun aber mit dem, was mir im soeben erschienenen Buch Heute Abstimmung auf den ersten Blick zu kurz kommt. David Hesse und Philipp Loser erörtern 30 Volksentscheide, die die Schweiz verändert haben. Sie fangen mit der Totalrevision der Bundesverfassung (1874) an und enden zunächst mit der Initiative über die Masseneinwanderung (2014).

Gehaltvoll erläutern die beiden renommierten Publizisten auch prägende Abstimmungen dazwischen. So etwa über die AHV (1947) und das Frauenstimmrecht (1971) oder die Absage an den EWR (1992) sowie den Beitritt zur UNO (2002). Der eine Entscheid macht die Schweiz zur Insel, der andere öffnet sie zur Welt. Klar, im Hauptteil fehlt mir jedoch die Konzernverantwortungs-Initiative (2020). Sie taucht erst nach dem visionären Schlusswort über Die nächsten 700 Abstimmungen auf. Und zwar in einer nur vierseitigen Rubrik über 30 weitere wichtige Volksabstimmungen. Dann folgen noch ein Glossar sowie Verweise auf Quellen und Literatur.

Das sind alles wertvolle Grundlagen. Sie qualifizieren künftige Debatten darüber, wie wir die Schweiz gestalten könnten. Und dazu packte mich vor Jahresende noch ein zweites Buch, das ebenfalls 2024 erschien.

Dick Marty verfasste Furchtlose Wahrheiten. Sein Vermächtnis sind die Betrachtungen eines Staatsanwalts und liest sich wie ein Krimi. Der Autor kam im Januar 1945 im Tessin zur Welt, wo er am 28. Dezember 2023 auch starb, lange Staatsanwalt war und von 1989 bis 1995 in der Kantonsregierung das Finanzdepartement leitete. Danach politisierte er bis 2011 für die FDP im Ständerat, engagierte sich zudem im Europarats sowie in der OSZE-Kommission für Menschenrechte.

Für den Europarat deckte Marty geheime Häftlingslager und -transporte des amerikanischen Geheimdienstes CIA in Europa auf. In brisanten Berichten (2006/2007) bezichtigte er europäische Länder, solche illegalen Aktivitäten nicht nur zu ignorieren, sondern auch zu akzeptieren, wie die USA den Terrorverdächtigten kaum gewährten, sich zu verteidigen. 2010 lastete der Jurist zudem kosovarischen Führern an, sich 1998/99 im Loslösungs-Krieg an (UÇK-)Verbrechen beteiligt zu haben; sogar an Auftragsmorden und am Handel mit Organen serbischer Gefangener.

Marty konzentrierte sich fortan darauf, die Interjurassische Versammlung (bis 2017) zu präsidieren und die erste Konzernverantwortungs-Initiative mit zu lancieren, die 2020 eine Ja-Mehrheit erhielt, aber am Ständemehr scheiterte. «Die Forderung, dass ein multinationales Unternehmen für die Schäden, die es der Bevölkerung und der Umwelt in den fragilen Ländern, in denen es tätig ist, zufügt, zur Rechenschaft gezogen wird, scheint mir absolut selbstverständlich zu sein», resümierte er . Umso mehr schockierte ihn, wie unsere damalige Justizministerin, zusammen mit Economiesuisse und SwissHoldings, «die Initiative mit solchem Eifer und einer solchen Lässigkeit im Umgang mit der Wahrheit bekämpfte» und wie Medien bezahlte Artikel des gegnerischen Komitees wie redaktionelle Beiträge veröffentlichten.

75-jährig wollte sich Marty nun mehr Freizeit gönnen und seiner Gesundheit widmen. Eine erhebliche Bedrohung hinderte ihn jedoch daran. Infolge seiner mutigen Ermittlungen musste er seinen Lebensabend unter engem Polizei- und Militärschutz verbringen. Und so verfasste er, empört und doch gelassen genug, eine eindrückliche (Selbst-)Reflexion. Sie inspiriert auch die zweite Konzernverantwortungs-Initiative, die am 7. Januar 2025 lanciert wird. 130 zivil couragierte Organisationen engagieren sich dafür. Intensive Kontroversen stehen uns also über das bevor, was Konzerne verantworten müssen.

Nun, Hesse und Loser blicken am Ende ihres Buches bereits auf Die nächsten 700 Abstimmungen und bilanzieren: «Dieses Reden und Verhandeln schafft so etwas wie Gemeinschaft». Wie wahr, sofern fair und demokratisch geführt! Dann ermöglicht eine lebendige Kultur der Auseinandersetzung tatsächlich ein soziales Vermögen und Miteinander.

Porträt Ueli Mäder © Christian Jaeggi

Buchhinweise:
– David Hesse, Philipp Loser: Heute Abstimmung! 30 Volksentscheide, die die Schweiz verändert haben Zürich 2024, Limmat-Verlag ISBN 978-3-03926-081-2
– Dick Marty: Furchtlose Wahrheiten. Betrachtungen eines Staatsanwalts unter Personenschutz. Zürich, 2024, Rotpunkt ISBN 978-3-03973-049-0

Was Biografien erhellen, vertieft der Soziologe Ueli Mäder in einem Kurs der Volkshochschule Basel am 16. Januar 2025 und am 13. Februar 2025  anhand der Biografien von Judith Giovanelli-Blocher und Dick Marty. Hier geht es zu den Details wie Zeit, Ort Kosten und zur Anmeldung bis 9.1.2025

 

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