Daniel Mullis ist 40-jährig. Er kommt aus der Schweiz und schreibt über Deutschland. Das ist mutig und weckt mein Interesse. Ja, Mullis studierte Geographie und Geschichte in Bern. Dann zog er über Bologna nach Frankfurt am Main. Und hier arbeitet er am Leibniz-Institut für Friedensforschung über aktuelle Konflikte. «Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten», so heisst seine jüngste Untersuchung. Und der Untertitel spricht «Die Regression der Mitte» an, was durchaus relevant und brisant ist.
Die Rechte erstarkt auch wegen der Mitte, bilanziert Mullis seine Studie über soziale Milieus in Deutschland, wo er inzwischen schon fünfzehn Jahre lebt. Sein Augenmerk gilt Stadtteilen mit Rechtstrend in Frankfurt a.M. und Leipzig. Das «weltoffene und sozial tief gespaltene» Frankfurt ist sein Zuhause. Und der Osten Deutschlands ist ihm familiär näher gerückt. Das vereinfache seinen Vergleich, erörtert er. Gut nachvollziehbar. Aber aufgepasst! Vielleicht können wir Fremdes besser verstehen, wenn wir uns eingestehen, was wir alles nicht verstehen. Auch bei uns selbst.
Mullis fokussiert Bevölkerungskreise, die sich zur Mehrheit der demokratischen Mitte zählen. Er legt dar, wie regressive Tendenzen progressive verdrängen und rechte Organisationen aufsteigen. Grenzen und regressive Haltungen verschieben sich zur Mitte. Sie werden so salonfähiger und docken an vorhandene Dispositionen an.
Hinter Verunsicherungen steckten die Finanz- und Wirtschaftskrisen (ab 2008). Zudem verschärfte Konflikte um Migration (ab 2015) und die Pandemie (ab 2020) sowie neue Kriege (ab 2022) und verdrängte Umweltlasten. Die geldgetriebene Konkurrenz weiche allerdings schon seit den 1980er-Jahren soziale Strukturen auf, die sich weiter komplizierten. Das befördere wiederum das Polarisieren und Entsolidarisieren. Gefühle der Ausweglosigkeit erhöhten ferner Anfälligkeiten für autoritäre Versprechen, die erhoffte Freiheiten für alle überlagerten. Und so schwinde denn die Zustimmung für widerständige Proteste.
Mullis kritisiert auch «ein entleertes Demokratieverständnis», das selbst Grund- und Menschenrechte wieder zur Disposition stelle. Soziale Ungleichheiten führten dazu, eigene (Macht-)Privilegien und exklusive Freiheiten zu favorisieren. Ich halte diese strukturelle Sicht für wichtig. Wobei Mullis auch fünfzig Interviewte ausdrücken lässt, was sie befürchten und sich wünschen. Da kommen für mich recht eindrücklich Ressentiments, enge Vorstellungen von Normalität und Ohnmacht zum Ausdruck. Von Menschen, die in früheren Hochburgen von Werktätigen leben, die heute marginalisiert und negativ stigmatisiert sind.
Die authentischen Aussagen konkretisieren, wie Krisen die Fähigkeit vermindern können, persönliche Unsicherheiten anzugehen. Der Wunsch, einander in Ruhe zu lassen, deutet zudem ein gesellschaftliches Entkoppeln an. Und der Tenor, «Früher war alles besser», steht für eine Typologie der Apathie, die aus meiner Sicht noch eingehender nach widerständigen Ansätzen zu befragen ist.
Mullis regt nach meinem Dafürhalten durchaus stimmig an, sich autoritären Tendenzen zu widersetzen. Er will emanzipatorische Potenziale fördern. Von ihnen zeugen auch soziale Aktivitäten, die sich trotz regressivem Rechtsdrall freiheitlich entfalten und unsere Gesellschaft zusammen halten. Mehrere Interviews dokumentieren ebenfalls die Bereitschaft, «sich auf die Welt und die Menschen um sich herum einzulassen». Daran lässt sich anknüpfen.
Wir benötigen strukturelle Veränderungen sowie Sensibilität für vielfältige Subjektivität und feine Zeichen egalitärer Kollektivität. Freiheitlich für alle gestaltet, bringen solch integrative Ansätze mehr soziale Verbindlichkeit in das Verhältnis von Ich und Wir. Das verlangt indes ein engagiertes Miteinander, das weitere Lebensbereiche demokratisiert und uns alle dazu motiviert, auch eigene Sichtweisen kritisch gegen zu checken. Dazu hätte ich in der spannenden Untersuchung gerne noch mehr gelesen.
Titelbild: Ueli Mäder. Foto: © Christian Jaeggi
Buchhinweis: Daniel Mullis: Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten. Reclam, Stuttgart 2024. ISBN 9783150114698
Danke für diese differenzierte informative Buchbesprechung zu einem äusserst aktuellen Thema.
Es ist eine Binsenwahrheit, dass in schwierigen Zeiten ohne klare Orientierung, die Menschen in alte Muster und frühere Überzeugungen fallen; der Mensch lernt halt nur sehr langsam aus Fehlern der Geschichte. Da braucht es nicht viel, eine uneinige Landesführung zum Beispiel und ambitionierte und gerissene Poliker:innen, Finanz- und Wirtschaftsführer sowie ungebremste Medien, damit das Pendel auf die andere Seite ausschlägt.
Deutschland zeigt aktuell, trotz schwieriger Wirtschaftslage und einer leider bisher verfehlten Flüchtlingspolitik, wie sehr um demokratische Werte gerungen wird. Die Schuldzuweisungen und verbalen Entgleisungen im Deutschen Bundestag in dieser Woche waren kaum zu ertragen. Die demokratischen Parteien haben sich zwar knapp durchgesetzt und die vom Meister der Tatsachenverdrehung Rechtsanwalt und Kanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) provozierten Abstimmungsvorlage für ein neues Migrationsgesetz, die er nur dank der Stimmen der AfD durchsetzen konnte, vorläufig vom Tisch gefegt. Die Schlacht ist gewonnen, den angezettelten Krieg der Rechtsradikalen wird weiter gehen, auch bei uns.