Unter dem Titel «Ältere Menschen koordiniert betreuen. Für mehr Selbstbestimmung und Lebensqualität» haben im Dezember 2024 neun Altersorganisationen ein Themenheft herausgegeben, um sich gemeinsam fachlich und politisch für eine würdevolles Altern in der Schweiz einzusetzen.
Die Organisationen Artiset mit Curaviva, die Paul Schiller Stiftung, Pro Senectute Schweiz, Alzheimer Schweiz, der Entlastungsdienst Schweiz, Gerontologie CH, das Schweizerische Rote Kreuz, senesuisse und die Spitex Schweiz arbeiten öfters fachlich, projektbezogen und politisch zusammen. Mit dieser verbandsübergreifenden Publikation drücken sie ihre Zusammenarbeit auch auf redaktioneller Ebene aus.
Das Sonderheft (68 Seiten) mit thematischen Grundlagen, Stellungnahmen und Beispielen guter Praxis wird eingerahmt von einem Geleitwort von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider und kurzen Stellungnahmen der Präsidien der neun Organisationen zur Frage, wie die Altersorganisationen die koordinierte Betreuung vorantreiben können.
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider
Im Geleitwort von Bundesrätin Baume Schneider fällt ein wegweisender Satz auf: «Sozialer Austausch, intellektuelle Stimulation, emotionale Sorge und eine sinnstiftende Rolle in der Gemeinschaft bilden auch im hohen Alter die Grundlage für körperliches und geistiges Wohlbefinden und ein glückliches Leben.»
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider
Erfreulich an dieser Aussage ist der ganzheitliche Ansatz: Ziel ist ein glückliches Leben, das sich an einem umfassenden Verständnis von Wohlbefinden orientiert. Ältere Menschen sind also nicht schon glücklich, wenn sie gesund sind in dem Sinne, dass sie medizinisch gesehen nicht an Krankheiten leiden. Somit ist die Altersmedizin bloss eine von vielen Unterstützungssystemen für das Wohlergehen im Alter. In den Vordergrund stellt die Bundesrätin eine sinnstiftende Rolle im Alltagsleben, sozialen Austausch und emotionale Sorge. Damit rückt der ältere Mensch als soziales Wesen ins Zentrum. Bei vielen der im Sonderheft präsentierten guten Beispiele geht es deswegen um gute Formen der Sozialarbeit, der Gemeinwesenarbeit, der Begegnungskultur im Quartier. Der Begriff «intellektuelle Stimulation» im Zitat der Bundesrätin könnte im engeren Sinn verstanden werden als blosse Anregung der Gehirnwindungen durch digitale oder analoge Formen des Gehirnjoggings. Aber «intellektuelle Stimulation» wird auch gefördert durch kreatives Tun, beim Diskutieren oder Lesen und beim neugierigen Erkunden der nahen und weiten Welt.
Statements der Präsidien von Altersorganisationen zur koordinierten Betreuung
Welche Betreuungsaktivitäten heben die Präsidien der neun Altersorganisationen hervor?
Nach Pirmin Bischof (Präsident Senesuisse) strebt senesuisse nach einem optimalen «Angebot von ambulanten, teilstationären und stationären Dienstleistungen.» Deswegen setzt sich Senesuisse dafür ein, dass betreutes Wohnen über Ergänzungsleistungen finanzierbar wird und dem Mangel an Pflegefachkräften mit dem Einbezug der sozialen Berufe begegnet wird.
Für den Präsidenten der Paul Schiller Stiftung, Herbert Brühl, ist es wichtig, die Betreuung interdisziplinär, qualitätsvoll und bezahlbar zu entwickeln durch die Unterstützung wissenschaftlicher Forschung und Förderung von Pilotprojekten im Bereich der Betreuung. Denn «gute Betreuung fördert die soziale Teilhabe, erhält die psychische Gesundheit und berücksichtigt den individuellen Betreuungsbedarf.»
Für Thomas Heiniger (Präsident der Spitex Schweiz) ist klar, dass neben der medizinischen Pflege eine gute Betreuung im Alter zentral ist, um «sowohl die körperlichen als auch die emotionalen, sozialen und psychologischen Bedürfnisse älterer Menschen zu erfüllen.» Deswegen unterstützt die Spitex «die geplante Änderung des Bundesgesetzes zu Ergänzungsleistung für die Finanzierung von Betreuungsleistungen.»
Nach Delphine Roulet Schwab (Präsidentin von Gerontologie CH) leistet ihr Netzwerk «einen direkten Beitrag zu den drei Bedingungen einer guten Betreuung im Alter, nämlich Wissen über das Altern und die ältere Bevölkerung vermitteln, eine realistische Sicht des Alterns fördern und den Dialog zwischen den Akteuren vorantreiben» etwa durch das Programm «altersfreundliche Gemeinde» und das «Forum Alterspolitik».
Hans Stöckli (Zentralpräsident von Alzheimer Schweiz) setzt sich dafür ein, dass demenzspezifische Leistungen adäquat abgerechnet werden können, denn Menschen mit Demenz brauchen demenzspezifische Betreuung und Pflege. «Dazu gehört, dass genügend Zeit zur Verfügung steht. Eine demenzgerechte Betreuung braucht zudem genügend und spezifisch geschulte Fachpersonen.»
Bewohnende und Mitarbeitende der Stiftung für Betagte in Münsingen backen gemeinsam.
Für Denise Strub (Präsidentin Entlastungsdienst Schweiz) muss Betreuung für alle zugänglich und bezahlbar sein. Damit können Heimeintritte hinausgezögert oder sogar vermieden werden. Wenn möglich sollen über längere Zeit dieselben Betreuungspersonen zur Verfügung stehen, welche auf individuelle Kundenwünsche direkt und schnell eingehen können.
Das Co-Präsidium von Artiset mit Curaviva, Laurent Wehrli und Marianne Streif, hebt hervor, dass eine Stärkung der integrierten Versorgung eine gute Abstimmung zwischen nationaler, kantonaler und lokaler Ebene erfordert. Zudem werde eine personenzentrierte und sozialraumorientierte Pflege und Betreuung verbessert durch Caring Communities und die Förderung von Wohnformen mit Dienstleistungen.
Nach Eveline Widmer-Schlumpf (Stiftungsratspräsidentin Pro Senectute Schweiz) legt die Pro Senectute «grossen Wert auf eine altersgerechte, ganzheitliche und koordinierte Betreuung, welche die Selbstständigkeit und Lebensqualität älterer Menschen fördert. Dazu gehören Beratungen zu Gesundheit, Finanzen und sozialem Leben, Unterstützung im Alltag, Mahlzeitendienste und Mittagstische, soziale Begleitung und Freiwilligenarbeit.»
Gemäss Thomas Zeltner (Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes) fördert das SRK «die aktive Alltagsgestaltung und soziale Teilhabe, beispielsweise mittels Besuchs- und Begleitdienst.» Geschätzt wird auch der Rotkreuz-Fahrdienst und die Ausbildung von rund 4000 Pflegehelfenden jährlich. «Wir bieten überdies Information, Beratung und Koordination, aufsuchende Beratung und Begleitung und palliative Begleitung.»
Betreuungsfinanzierung bei Ergänzungsleistungen
Am 19. Dezember 2024 hat der Nationalrat als Erstrat die Vorlage der Betreuungsfinanzierung bei Ergänzungsleistungen bis zu 12 000 Franken pro Jahr zugestimmt. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung und u.a. der intensiven Thematisierung der Wichtigkeit der Betreuung für ein möglichst selbstbestimmtes Leben dieser neun und anderer Organisationen und Akteure zu verdanken.
Spaziergang einer Sozialreferentin mit Mieterinnen und Mietern von betreuten Wohnungen in Crissier.
Was ist Betreuung?
Lange wurde der Begriff der Altersbetreuung unterschiedlich verwendet. In letzter Zeit scheint sich ein Konsens über die Bedeutung des Begriffs abzuzeichnen. In einer vom Bundesamt für Sozialversicherung im Jahre 2023 herausgegebenen Studie wird der Begriff so definiert: «Betreuung im Alter unterstützt ältere Menschen, ihren Alltag selbstbestimmt zu gestalten und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, wenn sie das aufgrund der Lebenssituation und physischer, psychischer und/oder kognitiver Beeinträchtigung nicht mehr gemäss ihren Vorstellungen selbständig können.» Das Sonderheft über koordinierte Betreuung hebt vier Eigenschaften über qualitativ gute Betreuung hervor: «personenzentriert, umfassend, koordiniert, zugänglich.»
Anne-Marie Nicole von Artiset macht sich im Themenheft in einem Artikel unter dem Titel «Die Bedeutung von Wörtern» Gedanken über passende Ausdrücke für Betreuung, Pflege, Begleitung usw. im Altersbereich, auch über die Sprachgrenzen hinweg. Es wird offensichtlich, dass für ein selbstbestimmtes Altern mit Beeinträchtigungen das Vokabular anzupassen ist. So sollten die professionellen Akteure sich nicht mehr «Leistungserbringer» nennen, sondern eher Dienstleister oder Anbieter von bestimmten Unterstützungsleistungen. Denn die wichtigsten Leistungserbringer sind die beeinträchtigten Personen selbst, die versuchen, ein selbstbestimmtes Leben mit Unterstützungsleistungen von aussen zu führen. Aktiv Betreuenden sollte nicht passiv Betreute gegenüber stehen. Care-Arbeit darf nicht zur «Versorgung» und Überversorgung führen und damit die wertvolle Selbstsorge verdrängen.
Die vielen Beispiele guter Praxis, Grundlagentexte und Stellungnahmen sind anregend für alle im Altersbereich Tätigen, für Freiwillige und ältere Personen, weswegen dem Sonderheft eine möglichst starke Verbreitung und Kenntnisnahme zu wünschen ist.
Titelbild: In einer Überbauung mit betreuten Wohnungen in Crissier essen Sozialreferentinnen mit Bewohnenden gemeinsam.
Alle Fotos sind Screenshots von BS aus dem digital zugänglichen Themenheft: Ältere Menschen koordiniert betreuen. Für mehr Selbstbestimmung und Lebensqualität (Dezember 2024)