Du bist in eine neue Wohnung gezogen oder möchtest deine neuen Nachbarn kennenlernen. Da tummeln sich, neben Angepassten, auch einige komische Käuze. Das Vierpersonen-Stück «Bin nebenan» im Berner Mundarttheater Matte handelt von Begegnungen, Sympathien und Konflikten.
«Die Wicherts von nebenan» hiess in den siebziger Jahren eine Fernsehserie, die im ZDF-Vorabendprogramm ausgestrahlt und in den neunziger Jahren wiederholt wurde. Im Mittelpunkt der Geschichten stand das Alltagsleben einer West-Berliner-Familie mit all ihren Sorgen und Freuden. Neben einem Grossaufgebot an deutschen Volksschauspielern und einstigen Leinwandgrössen überzeugte die Serie vor allem durch die realistische Darstellung kleinbürgerlicher Verhältnisse. Insgesamt wurden ein Pilotfilm sowie 49 Folgen gedreht.
Zwischen glücklich, grollend und passiv: Das Stück lebt von divergierenden Emotionen.
Im Theater Matte verkörpern im Stück «Bin nebenan» der deutschen Autorin Ingrid Lausund zwei Männer und zwei Frauen rund ein Dutzend Rollen in fünf Bildern. Die Alltagsszenen könnten in Bern, Zürich, Basel, in irgendeiner Schweizer Stadt, spielen. Nicht die Verortung steht im Vordergrund, sondern die verbale und non-verbale Aktion und Interaktion der Spielenden. Als Zuschauer/in wird man Zeuge von peinlichen, grotesken, berührenden Momenten, die das Innenleben der Protagonisten beschreiben, aber gewiss nicht an die Öffentlichkeit gehören.
Gemeinsam ist den in sich abgeschlossenen Szenen (Regie: Oliver Stein) eine einfache Wohnküche (Bühnenbild Fredi Stettler) inkl. Bett, Bank, Tisch, einem Fenster sowie an die schwarze Wand gezeichnete Einrichtungsgegenstände wie Stereoanlage, Kochherd, Spühle und Eisschrank. Gespielt werden weder eine kohärente Erzählung noch eine zusammenhängende Geschichte, sondern Stimmungen, Emotionen, Gefühlsausbrüche, Monologe, Gedanken, Neurosen.
Spannungen in der Wohngemeinschaft
Glückseeligkeit trägt Gelb (Kostüme: Barbara Sorgen).
Im ersten Bild leben zwei Männer und zwei Frauen mehr oder weniger friedlich in einer WG. Frau 1 ist glücklich, freundlich, optimistisch, liebt ihr Zuhause über alles. «Toll! Driissg Quadratmeter Ehrlechkeit, zwo Chochplatte und es verpissts Stägehus. Ja, das isch vital!», jubiliert die Figur (gespielt von Martina Brönnimann). In ihrer Glückseeligkeit wirkt die Frau wie ein Engel, während ihr grollender Gegenpart dem Teufel gleicht.
Wütend, grollend, aggressiv. Frau 2.
«U wenn mir doch glychzyttig deheim sy, git‘s es diskrets Rotationsprinzip», grollt, die Mitbewohnern (gespielt von Anna Sojčić). Frau 2 wirkt notirisch unzufrieden, tigert in der Wohnung herum und kündigt an, in die Nachbarwohnung umzuziehen: «Bin nebenan», droht sie. Die Frau scheint ein Problem mit Mann 1 zu haben, der abgeschottet dasitzt, mit Kopfhörern über den Ohren, den Blick auf den Computerbildschirm fixiert. Derweil gibt sich Mann 2 geschäftig und scheint keine Meinung zu haben, weder zur Wohnung noch zu seinen Mitbewohnenden.
Welcher Zielgruppentyp bist Du?
Lorenz schwimmt für einmal gegen den Strom.
Hauptfigur im zweiten Bild ist Lorenz (gespielt von Adrian Schmid). Der Mann ist auf der Suche nach seinem Geschmack und damit seiner Identität. Für einmal möchte er ausbrechen aus seiner Normalität aus der <Zielgruppe Lorenz>: «Mein Leben ist überraschungsfrei und durchgestylt, ein perfektes typisches Lorenz-Leben, und deshalb gibts jetzt einmal etwas Untypisches: Ich kaufe kein Lorenz-Sofa! Verweigerung, ihr könnt mich alle mal! Und gerade mit Absicht kauf ich jetzt dieses Rote-Rosen-Sofa aus der <Zielgruppe Reto>!», bekennt er trotzig.
Grotesk wird die Szene, als ihm eine Marktforscherin und ein Marktforscher absurde Fragen zu seinen Vorlieben, seinem Geschmack, seinen Präferenzen und Konsumgewohnheiten stellen. Der einst so selbstsichere und zielorientierte Lorenz entgleist, wirkt desorientiert und sprunghaft.
Liebenswürdig, aber mit kognitiven Einschränkungen
Gleichsam schockierend wie berührend: Aschi vergöttert seine Pflegeeltern.
Das dritte Bild elektrisiert: Aschi (gespielt von Stephan Hugentobler), Sohn einer Gelegenheitsprostituierten, in jungen Jahren bei einem Paar, dann im Heim fremdplatziert, stellt sich in einem Monolog vor, wie es wäre, seine Pflegeeltern würden ihn in seiner schönen kleinen Wohnung besuchen.
Schockierend wirkt die Interpretation der kognitiven Einschränkung des Rollenträgers, ein Zustand, den man sich als gesunder, nicht beeinträchtigter Mensch absolut nicht vorstellen kann. «U das sy myner Fische, ja, da stuunet dir, dass ig sogar Fische ha. I ha zersch mal eine gha, probewys, zum Luege, öb das klappt. Jetzt han ig es Aquarium», sagt Aschi stolz zu seinen fiktiv anwesenden Pflegeeltern. Nach dem ersten Schock wirkt seine Naivität berührend.
Putzfrau mit Kopftuch
Putzfrau Snjezana (rechts) versucht, es der Auftraggeberin (Mitte, in grün) recht zu machen. Zwei Nachbarn (links) kommentieren das Verhalten der ungleichen Frauen.
Nächtliche, von zwei Bankangestellten befeuerte Betreibungsängste eines Familienvaters sind das Thema der vierten Szene, bevor das Ensemble dem Publikum in einem witzigen fünften Bild den Spiegel vorhält: Wie interagieren wir mit einer bosnischen Reinigungsfrau Snjezana (Anna Sojčić)), die mit Kopftuch bei uns putzt und eines Tages ihre kleine Tochter mitbringt? Bei dieser Gelegenheit geht ein Tee-Krug zu Bruch. Wer ist schuld? Wie reagiert die Wohnungsbesitzerin (Martina Brönnimann) auf das Malheur, wie auf die gut gemeinte Geste der Putzfrau, welche bosnische Kekse mitbringt?
Die gesamte Inszenierung mit einem Unterhaltungsgefälle zwischen banal-lauwarm und temporeich-originell erreicht im fünften Bild ihren Höhepunkt. Köstlich, wie sich die Wohnungsbesitzerin und die Reinigungsfrau im Dialog kompromissfreudig arrangieren und gleichzeitig versuchen, ihre kulturell verschiedenen Charaktere zu bewahren. Das Publikum verdankte das einfühlsame Spiel der vier Darstellenden mit grossem Applaus.
Titelbild: In fünf Bildern verkörpern zwei Frauen und zwei Männer diverse Rollen aus dem Alltag. Titel- und Schlussfoto: PS / alle anderen Fotos: © Simon Schwab.
Zur Autorin
Ingrid Lausund wurde 1965 in Ingolstadt geboren. Zunächst studierte sie Schauspiel und Regie an der Theaterakademie in Ulm. Nach dem Studium arbeitete sie einige Jahre als Regisseurin in Ravensburg, wo sie auch einige selbstgeschriebene Stücke inszenierte. Später wurde sie Hausautorin und Regisseurin am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Unter dem Pseudonym Mizzie Meyer schrieb Lausund für die Fernsehserie <Der Tatortreiniger>. Dafür wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt als freie Autorin und Regisseurin in der Bretagne und in Berlin. Mit <Bin nebenan> zeigt das Theater Matte erstmals ein Stück von ihr.
LINK