StartseiteMagazinLebensartEin Nidwaldner schreibt Geschichten

Ein Nidwaldner schreibt Geschichten

«Ich schreibe aus Freude an Wortspielereien und aus Lust am Erschaffen von biografischen Geschichten, die berühren, ein Schmunzeln auslösen und zum Nachdenken anregen», sagt der in Zürich lebende Innerschweizer Schriftsteller Tony Ettlin. Seniorweb hat den Heimweh-Nidwaldner zu Hause besucht.

Auf der Startseite seiner Homepage bezeichnet er sich als «Schreibender». – «Schriftsteller» sei ihm «zu gross» gewesen, erklärt er. Inzwischen hat sich Tony Ettlin an die Berufsbezeichnung gewöhnt. Schliesslich ist er Mitglied im «Innerschweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverein». Zusammen mit seiner Ehefrau wohnt er im zürcherischen Uitikon-Waldegg. Zum offiziellen Slogan der Gemeinde «Uitikon – die Gemeinde mit Weitsicht» hat er ein Anagramm geschrieben: «Uitikon – die mit dem weichen Teig». (Anagramm: gleiche Buchstaben, neu angeordnet).

Weitblick von der Terrasse seines Hauses, bis auf die Berner Alpen.

Besuchen darf ich den rüstigen 75-Jährigen in seinem geschmackvoll eingerichteten Einfamilienhaus am Fuss des Uetlibergs. Im Wohnzimmer nehmen wir am Esstisch Platz. Tony Ettlin serviert Kaffee und zwei Riesen-Nussgipfel. Sogleich kommen wir auf die Schriftstellerei zu sprechen.

Seniorweb: Schreiben Sie – als Rentner – primär für Seniorinnen und Senioren?

Tony Ettlin: Nicht explizit. Aber es ist schon so, dass zu den 1200 Abonnentinnen und Abonnenten meiner monatlichen Kalendergeschichten viele Seniorinnen und Senioren gehören. Ausserdem trete ich mit meinen Musikern vor einem mehrheitlich älteren Publikum auf. Und drittens habe ich in meinem ersten Buch meine Kindheitserinnerungen thematisiert, was ebenfalls ältere Menschen mehr interessiert als Jüngere. So ergibt sich mein Zielpublikum «60 plus».

Was sind biografische Texte?

Beiträge aus dem Blickwinkel meiner Lebenserfahrung, mit meinem biografischen Hintergrund. Obwohl meine Geschichten fiktiv sind und ich sie erfinde, ist immer ein biografisches Element dabei. Meistens sind meine Texte eine Mischung aus gelebter Realität und Fiktion.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Ich arbeite grad an einem Buch über den Borneo-Louis, einen Nidwaldner Politiker, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Söldner in Borneo lebte. Er kam 1832 in die Schweiz zurück, machte im Kanton Nidwalden eine politische Karriere, wurde Landammann und war Mitglied im Verfassungsrat für die Bundesverfassung. Sein Sohn, aus seiner ersten Ehe mit einer Malaiin, wurde zum ersten farbigen Nationalrat der Schweiz.

Tony Ettlin an seinem Arbeitsplatz, wo er recherchiert und schreibt.

Diese historisch interessante Geschichte ist nicht so bekannt. Deshalb habe ich in den Archiven recherchiert und schreibe nun über Louis Wyrsch ein Buch. Dem historischen Rahmen liegen ein Tagebuch und das Familienarchiv der Familie Wyrsch zugrunde. Das wird ein Text mit biografischem Bezug, der in «meinem» Kanton spielt.

Seit wann schreiben Sie?

Schon in der Schule habe ich sehr gerne Aufsätze geschrieben. Als Jugendlicher haben wir ausserdem an Silvester unsere Grossmutter in Reimform zum Geburtstag beschenkt und sie «aufgezogen». Durch meine Pensionierung hat die Schreiberei einen neuen Schub erhalten.

Was verbindet Ihr Berufsleben mit der Schriftstellerei?

Im Berufsleben als Organisationsberater habe ich in Seminarien und Workshops regelmässig Texte eingeflochten oder Interviews zu kleinen Geschichten verdichtet. Diese Methode führte stets zu Aufmerksamkeit und diente der Diskussion. Manchmal formulierte ich die Geschichten auch als Märchen. Viele Firmen und Mitarbeitende haben diese Vorgehensweise geschätzt.

Schreiben Sie mit pädagogischer Absicht oder nur zur Unterhaltung?

Ich schreibe eher auf die leichte, unterhaltende Art. Ein Erfolgserlebnis erfahre ich dann, wenn mir jemand sagt: Deine Geschichte hat beim Lesen ein Schmunzeln ausgelöst und zum Nachdenken angeregt. Einer meiner Texte handelt von der Lebensgeschichte eines Buches: vom Druck bis ins Brocki. Mehrere Leserinnen und Leser haben die Metapher vom Buch auf sich selbst übertragen und darin ihre eigene Lebensgeschichte gespiegelt. Ich möchte mit meinen Texten beides auslösen: Nachdenken und unterhalten.

Sind Sie ein Nidwaldner Bichsel, oder ähneln Ihre Texte den «Wegwerfgeschichten» von Franz Hohler?

Vor seinem Einfamilienhaus.

Ich wäre froh, wenn ich ein Bichsel wäre. Es wäre eine Ehre. Wir haben zweifellos Gemeinsamkeiten. Unsere Schreibweise geht in dieselbe Richtung. Die kurze Form liegt mir sehr. Beispielsweise seine Geschichte vom Tisch, der auch ein Stuhl ist und dann nicht mehr weiss, wer er ist. Bichsels Werke haben stets einen philosophischen Hintergrund und sehr oft auch einen leicht pädagogischen Anspruch.

Auch mit Franz Hohler habe ich Gemeinsamkeiten. Seine Geschichten gehen mir nahe, sowohl thematisch wie stilistisch. Unter Kalendergeschichten verstehe ich etwas leicht Lesbares, Unterhaltsames. Aber ein Kalenderblatt wirft man nicht weg, sondern klappt es um und liest es vielleicht noch einmal.

Was zeichnet eine gute Geschichte aus? Haben Sie ein Rezept?

Der erste Satz, der Einstieg, der in die Handlung hineinführt. Kein langer Vorspann, sondern ich versuche mit einer direkten Handlung, mit einem überraschenden Satz zu beginnen. Der Schalk darf nicht fehlen. In der Regel ist meine erste Fassung etwas länger. Beim Verdichten geschieht etwas Wichtiges. Ich streiche und verdichte. Dann gibts in meinen Geschichten am Schluss oft eine überraschende Pointe. Oder einen Punkt, der offen bleibt. So wird der Leser angeregt, die Geschichte weiterzudenken.

Wie kamen Sie auf das Thema «Schmuggler im Val Müstair»?

Dank den Zentralschweizer Kantonen durfte ich eine kreative Auszeit im «Casa Parli» in Sta. Maria erleben. Kurz vorher las ich einen Bericht über Schmuggler im Val Müstair in den sechziger Jahren. Für mich war klar, dass ich in Sta. Maria zu einem Thema schreiben wollte, das mit dem Tal zu tun hat. Zufälligerweise lernte ich den ehemaligen Pfarrer und Bibliothekar von Valchava kennen. Er ist ein Experte zum Thema und verschaffte mir Zugang zu Geschichten und Menschen, die die Schmugglerzeit im Val Müstair selber erlebt haben. Während den sechs Wochen meines Aufenthalts im Atelier konnte ich mit Zeitzeugen reden.

Sie schreiben auch gerne Kürzestgeschichten, wie sie in Ihrem Buch «Läderach bringt täglich die Post» erschienen sind. Haben Sie ein Beispiel?

«Ich wurde im Traum von einer Menschenmenge verfolgt, ein Lastwagen quetschte mich auf dem Fahrrad ein, ich stürzte über eine Felswand und alles misslang mir. Am Morgen öffnete ich die Neujahrspost und las, dass meine besten Freunde mir wünschen, dass all meine Träume in Erfüllung gehen sollen.»

Begleitet von zwei Musikern, liest Ettlin (rechts) regelmässig an privaten und öffentlichen Veranstaltungen aus seinen Büchern. Foto zVg.

Verleidet Ihnen das Schreiben nie?

Nein, im Gegenteil. Wenn ich eine Zeit lang pausiere, fehlt mir das Schreiben. Dann entsteht ein Drang, wieder eine Geschichte zu schreiben. Ich geniesse die privilegierte Situation eines Pensionierten, der nichts anderes zu tun hat, als seiner Leidenschaft nachzugehen.

Wann kommen Ihnen die besten Ideen für Geschichten?

In der Nacht, im Bett, wenn ich nicht schlafen kann. Am Morgen erzähle ich die Idee meiner Frau beim Frühstück. Dasselbe gilt für die Weiterentwicklung von Geschichten. Phasen der Schlaflosigkeit bringen mich auf neue Ideen.

Weshalb wohnen Sie nicht in Nidwalden, in ihrem Heimatkanton?

Aus beruflichen Gründen kam ich mit meiner Frau nach Zürich und blieb hier hängen. In Uitikon-Waldegg fühlen wir uns wohl. Ab und zu besuchen wir meinen Geburtsort Stans, um Freunde zu treffen oder an kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen.

——————————————————————————————————

Tony Ettlin wurde 1950 in Stans (NW) geboren. Nach Kindheit und Jugend in der «Freien Republik Schmiedgasse» (Stans) besuchte er die Verkehrsschule in Luzern. Anschliessend studierte er in Zürich Organisationspsychologie und arbeitete bei der Swissair. Ab 1987 war er selbständiger Berater für Organisationsentwicklung.

Im Übergang vom Berufsleben in die nächste Lebensphase wurde Schreiben zu seiner Haupttätigkeit. Ettlin schreibt biografische Texte, Kurzgeschichten, Gedichte sowie Anagramme.

Drei seiner Werke:

• Tony Ettlin „Blätterteig und Völkerball – eine Kindheit im Schatten des Stanserhorns“, Limmatverlag, Zürich 2007 (mit einem Vorwort von Peter von Matt)
ISBN 978-3-85791-532-1

• Tony Ettlin, „Läderach bringt täglich die Post“, Kalender- und Kürzestgeschichten 2016 – 2019, Verlag Bücher von Matt, Stans, 2019, ISBN 978-3-906997-89-6

• Tony Ettlin, «Cuntrabanda – Schmugglergeschichten aus dem Münstertal», Verlag Gammeter Media, St. Moritz, 2022, ISBN 978-3-9525338-9-5

Die Bücher können unter oe(at)ettlin.info bestellt werden. Unter derselben Mail-Adresse kann man sich unentgeltlich für die monatliche «Kalendergeschichte» anmelden.

Tony Ettlins Kurzgeschichten findet man auch auf seiner Homepage: https://tonyettlin.ch/Texte/

Weitere Artikel zum Thema:

Schmugglergeschichten aus dem Val Müstair

Literarische Auszeit im Münstertal

Spenden

Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, Sie zum Denken angeregt, gar herausgefordert hat, sind wir um Ihre Unterstützung sehr dankbar. Unsere Mitarbeiter:innen sind alle ehrenamtlich tätig.
Mit Ihrem Beitrag ermöglichen Sie uns, die Website laufend zu optimieren, Sie auf dem neusten Stand zu halten. Seniorweb dankt Ihnen herzlich.

IBAN CH15 0483 5099 1604 4100 0

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Beliebte Artikel

Mitgliedschaften für Leser:innen

  • 20% Ermässigung auf Kurse im Lernzentrum und Online-Kurse
  • Reduzierter Preis beim Kauf einer Limmex Notfall-Uhr
  • Vorzugspreis für einen «Freedreams-Hotelgutschein»
  • Zugang zu Projekten über unsere Partner
  • Massgeschneiderte Partnerangebote
  • Buchung von Ferien im Baudenkmal, Rabatt von CHF 50 .-