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Literarische Auszeit im Münstertal

Im Literaturhaus «Chasa Parli» im Val Müstair haben zwei Autorinnen und ein Autor aus der Zentralschweiz seit Mitte Januar recherchiert, Geschichten geschrieben und sich untereinander ausgetauscht. Seniorweb hat das literarische Trio in Sta. Maria besucht.

Nach einem erfolgreichen Pilotprojekt haben die Zentralschweizer Kantone 2022 zum zweiten Mal ein gemeinsames Literaturatelier finanziert und zwei Autorinnen sowie einem Autor einen kreativen Aufenthalt in der «Chasa Parli» ermöglicht. Die Journalistin und Kommunikationsfachfrau Susann Bosshard-Kälin (Schwyz), die Dramaturgin und Vermittlerin Selina Beghetto (Luzern) und der Geschichtenschreiber Tony Ettlin (Nidwalden) wohnten, kochten und arbeiteten im Januar und Februar während rund vierzig Tagen gemeinsam in dem 1619 erbauten Engadiner Gutshaus.

Im Atelier des Schriftstellers Tim Krohn und seiner Frau Michaela Friemel Krohn bot sich den Literaten die einmalige Chance, den eigenen Schreibprozess voranzutreiben, sich mit den anderen Teilnehmenden auszutauschen sowie dank des Mentorings des Schriftstellerehepaars Krohn von einem professionellen Coaching zu profitieren. Dabei entstanden Kurzgeschichten, Porträts und Textbausteine, die in den kommenden Monaten in der einen oder anderen Form veröffentlicht werden.

Susann Bosshard-Kälin (68)

Die Schwyzer Journalistin und Buchautorin Susann Bosshard-Kälin hatte ursprünglich geplant, während ihres Aufenthalts im Val Müstair Männer, Frauen und Kinder zu treffen sowie zu porträtieren, wie sie es bereits in Einsiedeln mit ihrem Projekt «GeschichtenGesichter – die Welt trifft sich auf dem Einsiedler Klosterplatz» getan hatte. Die Corona-Pandemie machte diese Absicht zunichte. Als Alternative fasste sie den Plan, für den Naturpark «Biosfera Val Müstair» zwölf Produzenten aus dem Tal zu porträtieren, Produzenten, die ihre Produkte mit dem Produktelabel des Naturparks  versehen dürfen..

Im Naturpark «Biosfera Val Müstair» produzieren über achtzig Prozent der lokalen Landwirte rein biologisch. Auch das facettenreiche Handwerk des Tales arbeitet traditions- sowie qualitätsbewusst. Die Gegend östlich des Ofenpasses bildet eine einmalige Kultur- sowie Naturlandschaft. Nachhaltigkeit ist auch das Hauptziel des lokalen Tourismus und der Gastronomie. Die gesamte Wertschöpfung bleibt so zum grossen Teil in der Region.

Bis heute sind im Münstertal rund neunzig lokal hergestellte Produkte entsprechend zertifiziert. Dazu gehören Natura-Beef-Frischfleisch, Mostbröckli,  Würste und Salsize, Roggenmehl und  Roggenbrot Honig, Butter., Milch, Rahm und Käse sowie Gebranntes. Künftig sollen auch Eier und weitere Produkte das begehrte Label erhalten. Susann Bosshard-Kälin hörte in den vergangenen Wochen Menschen zwischen Tschierv und Müstair zu und erlebte eine regelrechte Aufbruchstimmung: «Die meisten Gesprächspartner, vom Bauern, der Wirtin bis zur Geschäftsführerin der Handweberei Tessanda  sind vom Label überzeugt und investieren ihre  Energie in eine nachhaltige Produktion mit Wertschöpfung im Tal.»

Die Porträts, welche die Schwyzer Autorin schreibt, werden in einem Flyer, auf der Webseite der «Biosfera Val Müstair» sowie auf den sozialen Medien des 2011 gegründeten Naturparks erscheinen. Susann Bosshard-Kälin freut sich, dass sie einen Beitrag an das innovative Projekt leisten und die lokale Bevölkerung unterstützen kann. «Je farbiger, vielschichtiger und komplexer ein Thema ist, umso mehr bin ich mit Herzblut dabei», lautet ihre Devise. Wenn sie nicht unterwegs war oder schrieb, dann spazierte sie mit ihrer Hündin Coco durchs Val Müstair, kochte oder diskutierte in der heimeligen «Chasa Parli» mit den beiden anderen Mitgliedern des Schreibateliers.

Selina Beghetto (33)

Die zweite Atelierbewohnerin, Selina Beghetto, studierte von 2010 bis 2013 in Wien sowie Pisa Theater-, Film- und Medienwissenschaft und schloss 2016 an der Universität Bern mit einem «Master in Theater- und Tanzwissenschaft» ab. Ihre Welt dreht sich um Tanz, Theater, Texte und Yoga.  Die Kulturschaffende hat mehrere Standbeine: Sie ist projektbasiert unterwegs, leistet Vermittlungsarbeit und schreibt im Auftragsverhältnis Texte. Von 2016 bis 2019 arbeitete sie am Theater Luzern als Dramaturgin und Regieassistentin.

Dramaturgische Erfahrung hat die ausgebildete Yogalehrerin auch an diversen Tanzfestivals gesammelt. «Dramaturgie ist die Kunst des Denkens. Ich denke auf Deutsch und Rätoromanisch. Ich schreibe gerne – schon seit klein auf, beschreibt Selina Beghetto ihre Leidenschaft. «Im Herzen bin ich Schriftstellerin, denn über das Schreiben kam ich zur Dramaturgie.»

Die 33Jährige ist im Oberengadin aufgewachsen und pendelte zwischen dort und dem Unterengadin, wo ihre Grossmutter heute noch lebt. Thema ihres Atelieraufenthalts ist die Rückkehr in ihre eigene, ursprüngliche Kultur. «Was macht die Sprache mit einem, vierzehn Jahre nach dem Weggehen?». Der Arbeitstitel ihres geplanten Buchs lautet «Ester», was auf Rätoromanisch «fremd» bedeutet.

Eine Hauptfigur ihres Buchs ist ihre eigene Grossmutter, die für sie nie fremd war. Nach langen Gesprächen schreibt die junge Frau nun die Erinnerungen ihrer Grossmutter auf und wird so zu ihrer persönlichen Archivarin. Die alte Frau wuchs als eines von neun Kinder auf, während ihr Vater im Zweiten Weltkrieg Dienst an der Grenze leistete. Zuhause hielt die Mutter, Selinas Urgrossmutter, die Stellung. «Mich überkommt Dankbarkeit sowie Demut für Menschen, die mir den Weg geebnet haben,» erzählt Selina Beghetto und betont, dass sie von der Heimkehr, dem Heimatthema und von starken Frauen fasziniert ist.

Tony Ettlin (72)

Der Nidwaldner Schriftsteller Tony Ettlin bezeichnet sich bescheiden als «Schreibender». Seine Wurzeln hat er in Stans. Über seine Kindheit schrieb er sein erstes Buch. Beruflich war Ettlin bei der Swissair tätig. Dann studierte er Psychologie und wurde selbständiger Organisationsentwickler. Seit seiner Pensionierung ist er  als Autor unterwegs. Seit sechs Jahren schreibt er Kalendergeschichten, seit fünf Jahren für die Nidwaldner «Brattig».

Im Münstertal recherchiert Ettlin Schmugglergeschichten. Er möchte die Umstände kennen, welche die Menschen antrieben, Güter vom Bündnerland nach Italien oder nach Österreich zu schmuggeln. Ettlin wanderte in den vergangenen Wochen auf Schmugglerrouten, sprach mit Zöllnern, mit einem Bibliothekar und Talbewohnern. Ausser Zigaretten wurden auch Alkohol, der Süssstoff Sacharin, Kühe, Salz, Kaffee sowie Drogen verschoben. Während des zweiten Weltkriegs wurden zudem Juden, Deutsche und Partisanen über die Grenze «begleitet».

Der Zigarettenschmuggel von der Schweiz nach Italien florierte bis 1971, als im südlichen Nachbarland das Staatsmonopol auf Tabak aufgehoben wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war Schmuggeln ein lukratives Gewerbe: Für einen «Pinggl» (eine Rückenladung, ca. 40 Kilogramm, verpackt in Jutesäcken, überzogen mit Plastik) erhielt der Schmuggler ungefähr den Monatslohn eines Bauern.

Auch die Eidgenossenschaft profitierte finanziell vom Zigarettenschmuggel. «Die Tabaksteuer, die in die AHV floss, wurde in der Schweiz geleistet, bevor die Ware nach Italien verschoben wurde», erzählt der Autor lachend, der festgestellt hat, dass diese Art von «Handel» in der Bundesrechnung unter der Bezeichnung «Export II» geführt wurde.

Aus dem Gehörten und Gelesenen schreibt Ettlin fiktionale Kurzgeschichten. Eine trägt den Titel «Tod eines Schmugglers». Ettlins Motivationen für das Thema sind sein historisches Interesse, der Wunsch nach Transparenz und das Ziel, die Leserinnen und Leser mit seinen Geschichten zu unterhalten. Geplant sind ein Buch, weitere Kalendergeschichten sowie Lesungen.

Weiterentwicklung in der «Chasa Parli»

Die «Chasa Parli» in Sta. Maria.

Die Geschichten sowie Porträts, die in der  «Chasa Parli» entstanden und in den folgenden Wochen und Monaten publiziert werden, sind farbig, abwechslungsreich sowie unterhaltend. Der Schwyzer Kulturbeauftragte Franz Xaver Risi sieht den Wert des Ateliers in der Weiterentwicklung der Schreibenden selbst: «Es hat sich gezeigt, dass die fachliche Begleitung der Autorinnen und Autoren als Förderinstrument an Bedeutung gewonnen hat. Die Zentralschweizer Kantone haben dieses Bedürfnis aufgenommen und deshalb das gemeinsame Literaturatelier 2022 erneut durchgeführt.»

Begeistert sind auch die Teilnehmenden: Sie haben sich vorgenommen, nach der Rückkehr an ihre Wohnorte untereinander in Kontakt zu bleiben. Susann Bosshard-Kälin, deren Atelierzeit am 27. Februar zu Ende geht, will im Sommer ins Val Müstair zurückkehren und die Kühe auf den saftigen Weiden sehen. «Ich habe mich während meiner Auszeit ins Val Müstair verliebt», gesteht die Schwyzerin.

Titelbild: Selina, Tony und Susann mit CoCo auf dem Sofa. Alle Fotos PS

Links:

Webseite von Susann Bosshard-Kälin

Webseite von Selina Beghetto

Webseite von Tony Ettlin

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