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Zu Besuch bei Reto Hänny

Wie soll man einen bekannten Schriftsteller vorstellen, der sein Leben in dicken Büchern literarisch beschrieben hat. Dennoch, wer ist Reto Hänny, was erzählt er mir und wie kann ich ihn vorstellen?

Reto Hänny (*1947) ist ein wunderbarer Geschichtenerzähler. Ich könnte ihm stundenlang zuhören. Solange er erzählt, gibt es keine Fragen, bleibt er lebendig, bleibt er am Leben wie Scheherazade, die ihr Leben mit dem Erzählen von Geschichten in Tausendundeiner Nacht rettete. Oder die jungen Leute in Boccaccios Decamerone, die 1348 vor der Pest in Florenz flohen, und sich täglich Geschichten erzählten, um dem schwarzen Tod zu entrinnen.

Reto Hänny in seiner Schreibstube (rv)

Geschichtenerzähler brauchen ein Publikum. Menschen, die bereit sind, in ihre Geschichten einzutauchen, mit ihnen mitzuschwingen. Mit der Sprache, dem Klang, dem Rhythmus, auch wenn unter Umständen kein Wort verstanden wird. «In Marrakesch habe ich auf dem Markt den Geschichtenerzählern fasziniert zugehört und nichts verstanden», sagt Reto, «dafür habe ich mir eine eigene Geschichte daraus gereimt.»

Der kleine Reto mit Neni, seinem Grossvater, um 1950

Schon sein Grossvater erzählte dem kleinen Reto auf der Alp Geschichten und Sagen aus der heimischen Bergwelt. «Geschichten, die ich, wenn Neni beim Ticken des Holzwurms den Tod pöppeln hörte, gegen den es anzureden galt, als Vier- bis Sechsjähriger bis in den Schlaf hinein hörte. Und deren Gestalten mir unterwegs, wenn ich allein ins Tal hinunter musste, als Gespenster erschienen», erinnert er sich.

«Es sind die immer gleichen Erzählungen mit Variationen, man kann nichts Neues erfinden, aber jede Geschichte immer wieder neu erzählen», meint Reto Hänny. «Sie lassen sich bei den alten Griechen, bei Homer oder Ovid nachlesen, mein Grossvater kannte diese Mythen sicher nicht». Hänny kennt auch Geschichten von Geistern, die sich melden, wenn Menschen in die Natur eingreifen. 1910 wurde auf dem Glaspass der Lüschsee entleert und das vieläugige Ungeheuer darin erwachte und liess die Hänge abrutschen. Oder wenn in Afrika der Wassergeist die Brunnen nicht mehr auffüllt, weil die Menschen ihm sein Bett nicht mehr bereiten.

Reto Hänny auf dem Piz Beverin, den er seit seiner Kindheit über 250 mal besucht hat.

Aus diesem «Urreservoir von Geschichten», schöpft Reto Hänny. In seinen Büchern erzählt er in langen Sätzen von seinem Grossvater, von der Kindheit als Bergbauernbub im bündnerischen Tschappina am Heinzenberg, wo Walser Mundart gesprochen wurde. Die Walser, alemannische Auswanderer, die im Mittelalter das oberste Rhonetal im Wallis verliessen, um sich im romanisch sprachigen Grossraum der Alpen anzusiedeln. Später in Chur wurde Reto wegen seines Walser Dialekts gehänselt.

Das Bergbauerndorf Tschappina GR im Winter, 1945

Die Schule war eine Enttäuschung. «Der Grossvater hatte mir die Buchstaben des Alphabets mit wunderbaren Geschichten nahegebracht.» Doch als Linkshänder zwang ihn der Lehrer, rechtshändig zu schreiben, und band ihm die linke Hand am Pult fest. Geschrieben wurde auf Schiefertafeln mit einem dünnen zugespitzten Schiefergriffel, der ihm in den Händen zerbrach. Nicht nur die Primarschule, auch die Sekundarschule war schwierig. Nur dank der Unterstützung des Pfarrers konnte Reto das neunte Schuljahr in Chur zu Ende bringen und schaffte es ins Lehrerseminar, wo er in Marc Eichelberg (1925-2011), einem engen Freund von Friedrich Dürrenmatt, auf einen verständnisvollen Lehrer traf. Ihn bezeichnet Reto als seinen «geistigen Vater», mit dem er zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb.

Frühe Kontakte mit der Literatur

Trotz der schwierigen Schulzeit kam Reto durch seine Lehrer früh in Kontakt mit der Literatur. Der Primarlehrer in Tschappina, Luzi Jenny (1925-2015), war ein Mundartdichter. Der Churer Sekundarlehrer Cla Biert (1920-1981), ein bekannter rätoromanischer Schriftsteller, erkannte erstmals Retos Legasthenie: «Bub, Du musst lesen!», war sein Heilmittel und verschrieb ihm in den Ferien die Lektüre von Franz Kafka Der Prozess, Günther Grass Die Blechtrommel und von James Joyce den Ulysses. Dieser grosse Roman wurde ihm in der Bibliothek verweigert, erst durch Intervention seines Lehrers durfte er täglich eine Stunde lang vor Ort darin lesen, was Reto stolz durchgezogen hat. So fand er zu seinem Lieblingsautor, den er später, selbst Schriftsteller, in seine Arbeit einbezog, etwa in Blooms Schatten von 2014.

Pizzo della Palù, 2010

Nach Abschluss des Seminars wurde Reto Lehrer an einer Gesamtschule im Safiental, wo er nach den Reformideen der Scuola di Barbiana unterrichtete. Die Kinder konnten das Programm mitgestalten, die älteren Kinder unterstützten die jüngeren, spielten Theater, experimentierten mit Musik, was zu heftigen Diskussionen und schliesslich zur Kündigung und zum freiwilligen Rücktritt aller fünf Lehrer der fünf Schulhäuser im Tal führte. Die Kinder mussten fortan mit dem Bus nach Safien Platz fahren.

1969 folgten Studienaufenthalte in Venedig, wo er Einblick ins Atelier von Emilio Vedova (1919-2006), dem Hauptvertreter der italienischen Informel-Malerei, bekam und dem Komponisten Luigi Nono begegnete. Später in Amsterdam zählten stilbildende Künstler wie Markus Raetz, Georg Baselitz, A.R. Penk oder Johannes Gachnang zu seinen Freunden. Hier merkte er, dass nicht Malerei, mit der er stets liebäugelte, sondern Schreiben seine Berufung ist. 1971 folgte eine achtmonatige Reise durch den Balkan bis nach Persien und Afghanistan, 1972 durch Spanien nach Nordafrika und in die Sahara.

Reto Hänny bei unserem Gespräch (rv)

Ab 1973 studierte er an der Universität Zürich Literatur, Ethnologie und Kunstgeschichte. Seine wichtigsten Lehrer waren Peter von Matt und Adolf Muschg, dessen Schreibseminare er an der ETH besuchte. In dieser Zeit begann er an seinem Erstlingswerk Ruch, ein Anagramm von Chur, zu schreiben, das 1979 publiziert wurde. Darin hatte er seine Erfahrungen als Bühnenarbeiter am Theater Chur zur Metapher der fiktiven grossen Kleinstadt Ruch verarbeitet.

«Heisser Sommer 1980» in Zürich

Als er in Zürich im «Heissen Sommer 1980» – mit den Opernhauskrawallen und Demonstrationen für ein autonomes Jugendzentrum AJZ – als Beobachter dabei war, wurde er von der Polizei verprügelt und verhaftet. «Bei den Verhören im Gefängnis und später am Gericht erzählte ich stets dieselbe Geschichte. Bei jedem Verhör konnte ich sie durch immer präzisere Details ausweiten, nur durfte ich mir dabei nicht widersprechen, und erschwerte dadurch die Befragung.» Seine Erfahrungen schrieb er während der einwöchigen Isolationshaft nieder und publizierte sie unter dem Titel Zürich, Anfang September im Suhrkamp Verlag 1981.

Erfolg als Schriftsteller

Ein internationales Stipendium ermöglichte ihm darauf ein Werkjahr in Berlin. «Ich habe immer wieder Glück gehabt, nachdem ich zuerst eins auf den Kopf bekommen habe», so Hänny. Er schrieb weitere Bücher und erhielt in der Folge namhafte Literaturpreise, unter anderem den Ingeborg-Bachmann-Preis und den Grand Prix Literatur. Sein letztes Buch Sturz. Das dritte Buch vom Flug erschien 2022 und ist eine Neubearbeitung seines Romans Flug von 1985.

Durch die Volksmusik in Graubünden fand Reto früh Zugang zur Musik. Auch wenn er als Kind keine Klarinette bekam, hatte er im Lehrerseminar mit dem Komponisten Gion Antoni Derungs «einen phänomenalen Musiklehrer, der mich bis zu den Neutönern in die Musik einführte», meint er. Seine Musikalität überträgt er in Klang und Rhythmus auf die Sprache: «Ein Satz, ein Text ist erst richtig, wenn er klingt. Wenn ein Buch gedruckt ist, ist es für mich noch lange nicht fertig. Ich kann immer weiter daran arbeiten und je nach Befindlichkeit, klingen meine Sätze jedes Mal anders.»

Reto Hänny und Fritz Hauser anlässlich einer Lesung.

Bei Lesungen performt er seine Texte gerne zusammen mit dem Perkussionisten Fritz Hauser. Derzeit richtet er seinen Roman Sturz für ein Hörbuch ein. Seine Texte, die er selber liest, eröffnen eine neue Welt: Die Geschichten werden lebendig, entfalten durch die Energie von Stimme und Sprache eine eigene Kraft und Magie. Die Szenen werden vor dem inneren Auge lebendig, die langen Sätze mit den vielen Einschüben erhalten durch den Erzähler einen natürlichen Rhythmus. Ich freue mich auf dieses Hörbuch.

Fotos: © Archiv Hänny

Seniorweb hat das Buch «Sturz» besprochen

Buchhinweis:
– Sturz. Das dritte Buch vom Flug. Matthes & Seitz Berlin, 20
20. ISBN 978-3-95757-870-9; Überarbeitete Neuauflage 2022. ISBN 9783751800280
– Blooms Schatten. Matthes & Seitz Berlin, 2014. ISBN 9783882211993

 

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2 Kommentare

  1. Es inspiriert mich, weiter meine Kindheit, das Leben überhaupt in Worte zu fassen, vielleicht als Überbleibsel von mir für die Kinder und Kindeskinder.

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