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Chagall neu erfahren

Das Basler Kunstmuseum zeigt das radikale Frühwerk von Marc Chagall: eine grosse Freude

„Endlich kann ich Chagall wieder anschauen,“ sagt der Kollege nach der Führung durch die neue Ausstellung. Was im Neubau des Kunstmuseums hängt, ist vom Kitschlabel befreit. Auch die These, dass Chagall ein apolitischer Maler gewesen sei, wird mit der Ausstellung Chagall. Die Jahre des Durchbruchs 1911-1919 revidiert.

Le juif en rose, 1915 © Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg/ProLitteris Zürich

Einer der Höhepunkte dieser Ausstellung: Alle vier Bilder der alten bärtigen Männer, der sogenannten vier grossen Rabbiner hängen erstmals vereint an einer Wand; Der Jude in Schwarz-Weiss, in Rot, in Grün (aus Basel), in Hellrot (aus St. Petersburg). Diese und weitere bekannte Bilder aus der Frühzeit sind düster, radikal und zugleich Zeugen der Nonchalance, mit der sich der junge Chagall sämtliche Strömungen im bewegten Paris vor dem ersten Weltkrieg aneignet. Chagall verwendet Formen des Kubismus beispielsweise, bleibt aber bei seiner Ikonografie, malt schwangereTiere mit transparenten Bäuchen, schwebenden Figuren und abgetrennte Köpfe, die Palette inspiriert von der russischen Volkskunst. Er arbeitet mit Leichtigkeit und zugleich sehr überlegt und präzis. In der Kubistischen Landschaft (1919-1920) gibt es inmitten von geometrisch-architektonischenVersatzstücken ein winziges grünes Männlein – auch eine Geschichte aus dem Schtetl.

A la Russie, aux ânes et aux autres, 1911 (-1912) © Musée national dart moderne, Paris/ProLitteris, Zürich

Chagall-Fans können die Ausstellung geniessen, die grossen Bilder sind bunt, auch wenn das Zuckerwattige und Liebliche fehlt, Chagall-Verweigerer können sich erst recht freuen, weil diese Ausstellung ihnen den Zugang, der von Posters, Seidenschals, Plaketten verstellt war, wieder gewährt.

Die Ausstellung, basierend auf dem Bestand des Basler Kunstmuseums und der Sammlung Im Obersteg, zeigt bekannte Bilder in einem radikal neuen Kontext, ergänzt durch wichtige Leihgaben, und vermittelt ein geschärftes Bild des Jahrhundertmalers. Hier geht es nicht um eine weitere Schau von Chagall, dessen Fleiss letzlich auch zum Überdruss führte, weil seine berühmten Bilder zu Dekorationen verkamen und er als romantisch-nostalgisch weltfremder Träumer schubladisiert wurde. Direktor Josef Helfenstein plante die Chagall-Schau, bevor er seine Stelle antrat. Die Beschränkung auf die Jahre 1911 bis 1919 ist eine weise Entscheidung, denn letztlich hat Chagall, der 97 Jahre alt wurde, seine stärksten Bilder als junger Mann gemalt und später vor allem sich selbst kopiert. Im Zusammenhang mit dem Ausstellungsprojekt wurde eng mit der Universität zusammengearbeitet, einige Werke wurde dabei wissenschaftlich analysiert und neu bewertet. Diese Arbeit findet ihren Niederschlag im Katalog, wo mehrere Aufsätze dazu publiziert sind.

Hommage à Appollinaire, 1911-1912 © Van Abbemuseum, Eindhoven. Foto Peter Cox, Eindhoven, The Netherlands/ProLItteris, Zürich

1911 kommt der junge Chagall, der seine Heimatstadt Witebsk zwei Jahre zuvor fürs Kunststudium verlassen hat, nach Paris, findet trotz Heimweh in der Kunstmetropole das richtige Klima für seine Entfaltung, und mit Sonia und Robert Delauney, Jacques Lipchitz, Picasso oder den Dichtern Guillaume Appollinaire und Blaise Cendrars (der den Bildtitel A la Russie, aux ânes et aux autres erfand) Freunde, die ihn fördern. Er taucht ein in die Bewegung, die alles Bisherige, was als Kunst galt, über den Haufen wirft und das Ungegenständliche sucht. Der eigenständige Künstlers wird in diesem Umfeld schnell bekannt. Der Grundstein für den nachhaltigen Erfolg ist mit den Ausstellungen in der Berliner Galerie Der Sturm 1913 und 1914 gesetzt. Jetzt hat er die Mittel um endlich seine Verlobte Bella Rosenfeld daheim in Witebsk heiraten und nach Paris mitnehmen. Aber der Krieg macht aus diesem Reiseplan einen langen Aufenthalt, Chagall sitzt in Russland fest, Weltkrieg und Revolution vereiteln die Rückreise.

Selbstbildnis 1914 © Stiftung Im Obersteg, Depositum im Kunstmuseum Basel 2004/PRoLitteris, Zürich

Müssig, aber als Gedankenspiel anregend ist die Frage, was wohl aus Chagall geworden wäre, hätten ihn die Apparatschiks sowie die Suprematisten, allen voran Malewitsch, nicht als Kommissar für Künste und Leiter der Witebsker Kunstschule aus den Ämtern gedrängt, die er von den Bolschewiken bekommen hatte. Erst 1922 kann er ausreisen, diesmal mit Bella Rosenfeld an seiner Seite.

Der Zwangsaufenthalt in der Geburtsstadt ist einschneidend: Chagall arbeitet weiter, malt vermehrt realistische Porträts der Familie, der jüdischen Gemeinschaft und der Rituale im Schtetl. Tuschezeichnungen von Verwundetentransporten oder Abschiedsszenen dokumentieren seine Erschütterung durch den Krieg1914/15 entstehen die vier grossen Rabbiner und mehrere Selbstporträts – Ausdruck intensiver Selbstreflexion.

Chagalls Enkelin Meret Meyer, ohne deren Hilfe die Ausstellung nicht möglich gewesen wäre, ist vom Ergebnis mehr als entzückt: „Das ist die erste Chagall-Ausstellung im Kunstmuseum. Sie übertrifft alle Träume, die wir hatten, und es gab viele Projekte.“

Bella (li) und Meret Meyer, Chagalls Enkelinnen vor dem Bild und der Skizze des Zeitungsverkäufers. © Julian Salinas

Die Basler Ausstellung mit mehr als hundert Arbeiten stellt Marc Chagalls Frühwerk mit einem Schwerpunkt historischer Fotografie in den Kontext des Lebens im russischen Schtetl. Die Fotos von Solomon Judowin dokumentieren eine durch soziale und politische Umwälzungen gefährdete Welt. Sie sind in der Schweiz erstmals zu sehen. Ergänzt werden diese Fotos durch Reportagefotografie aus der Sammlung Ruth und Peter Herzog.

Parallel zeigt das Jüdische Museum der Schweiz Die Kunst nach Chagall. Das Jahrhundert nach dem Durchbruch. Sein Werk war entscheidend für den Aufbruch in der jüdischen Kunst. Vor Chagall galt das Dilemma mit dem zweiten Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen. Auch Marc Chagall soll, bis er aus Witebsk wegging, nie ein Bild gesehen haben.

Teaserbild: La chambre jaune, 1911 © Fondation Beyeler/ProLitteris, Zürich
Bis 21. Januar 2018
Alle Informationen zur Ausstellung finden Sie hier.

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