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Videospiel mit ungewissem Ausgang

Der amerikanische Künstler Ian Cheng untersucht mit „Forking at Perfection“ das menschliche Bewusstsein durch Simulationen

Als Renaissance-Künstler von heute, der zugleich Forscher ist, stellt das Migros-Museum für Gegenwartskunst den Amerikaner Ian Cheng (*1984, Los Angeles) vor. Der Digital Native, der Kognitionswissenschaft und Kunst studierte, geht der Frage nach, wie das menschliche Bewusstsein entstand und wie und ob es sich entwickelt.

Still aus Emissary Forks at Perfection, 2015, Live Simulation und Story, Dauer unbegrenzt. Courtesy Gallery Pilar Corrias, Standard (Oslo) und der Künstler

Das Gehirn ist keine Hardware, sondern vielmehr ein komplexes Regelsystem, welches auch auf Umwelteinflüsse reagieren kann und nicht allein durch die Gene bestimmt ist. Mit seinen Echtzeitsimulationen will der Künstler die Betrachter zu „neurologischer Gymnastik“ anspornen. Seine Arbeiten basieren auf Videogame-Design, Improvisation und Selektion nach Darwins Evolutionstheorie. Damit produziert er virtuelle Ökosysteme. Ihre Grundeigenschaften sind programmiert, entwickeln sich dann in einer Weise weiter, die zwar den Naturgesetzen folgen, die aber weder von aussen gesteuert noch beendet werden können. Die Grundregeln und -Eigenschaften für den Beginn der Simulation sind gesetzt, aber beenden kann sie niemand, auch der Urheber nicht (ausser mit Stecker ziehen). Ian Chengs Arbeiten wären das Perpetuum mobile, wäre da nicht die Energie, die sie in Gang hält.

Forks At Perfection, 2015-2016, Live-Simulation, Ton, Dauer: unendlich. Ausstellungsansicht Migros Museum für Gegenwartskunst, Foto: Nicolas Duc

Tönt sehr theoretisch, ist aber auch erfahrbar: die Simulationen vonEmissary Forks At Perfection (ungefähr: der Abgesandte leitet ab/verzweigt/teilt auf in Vollendung) erzählt die Geschichte, der kognitiven Entwicklung; die virtuellen Figuren und Landschaften lassen sich lesen: Da ist ein Hund, oder auch ein Vielfaches von ihm, da gibt es eine Art menschliche Figur – transparent, mit sichtbarem Skelett, zunächst eher tot. Sie bewegen sich oder werden herumgeschubst in einer ständig sich wandelnden Landschaft mit Wüsten, Grasbüscheln, Wasserflächen, auch Räumen mit Gummibaum und Tischlein-deck-dich, manchmal begleitet von goldenen ovalen Körpern.

Evolution des Bewusstseins

Vorausgesetzt wird ein Kratersee, wo eine künstliche Intelligenz mit der Evolution spielt. Ian Cheng holt sich das theoretische Rüstzeug beim Psychologen Julian Jaynes, der 1976 mit seinem radikalen Hauptwerk Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche (Originaltitel: The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind) eine Evolutionsgeschichte des Bewusstseins verfasste.

Still aus Emissary Forks at Perfection, 2015, Live Simulation und Story, Dauer unbegrenzt. Courtesy Gallery Pilar Corrias, Standard (Oslo) und der Künstler

Bis vor rund dreitausend Jahren hätten die Menschen in Stresssituationen Stimmen gehört und entsprechend gehandelt, so wie es heute noch bei Schizophrenie oder religiöser Ekstase zu beobachten sei. Die beiden Hirnhemisphären hätten über unabhängig arbeitende Sprachzentren verfügt, deren eines um 1000 vor Christus verstummte. Bewusstsein und Willensfreiheit seien demnach eine spätere Errungenschaft. Reichlich spekulativ, aber ebenso spannend und in sich einleuchtend. Heute gelangen die Menschen mit der Komplexität von Big Data wiederum an die Grenzen der Vernunft. Die Simulationen erlauben, den Gefühlen von Angst und Unsicherheit spielerisch zu begegnen.

Spielwiese im Museum

Die zweite Arbeit in der von Raphael Gygax kuratierten Ausstellung ist eine Mutation oder eben Ableitung (Fork) der Simulation im Panoramaformat. Mit einem neuartigen Tablet-Computer in der Hand mache ich mich im grossen weissen Ausstellungsraum auf den Weg und versuche, den Bildschirm aufzuwecken, d.h. mit den rundum auf Wänden und Boden angebrachten Markierungen zu synchronisieren.

Emissary Forks For You, 2016, Live-Simulation, Ton, Dauer unendlich. Ausstellungsansicht. Foto: Nicolas Duc

Die Anweisung ist, dem Hund Sheba, bekannt von der Grossprojektion, zu folgen. Endlich tut sich was, der Bildschirm wird hell, der Hund erscheint und bittet mich, ihm nachzueilen. „Gut,“ sagt mir der Hund, „folge mir.“ Ich spiele mit, obwohl ich im Grund keinem Hund gehorchen will, auch keinem virtuellen. Doch je länger ich dabei bin, desto üppiger wird die Szene auf dem kleinen Bildschirm, da ist auch der Gummibaum wieder und die Früchte und viele weitere Dinge. Den Ausstellungsraum vergesse ich darob. Auch wenn die virtuelle Welt winzig ist, kann ich darin eintauchen, die Simulation mit ihren Organismen und ihrer unendlichen Dynamik erfahren. — Später denke ich über Simulation in der virtuellen und vor allem Manipulation in der realen Welt nach.

bis 16. Mai
(Zeitgleich zeigt das Migros Museum eine Gruppenausstellung, die sich mit dem Denkmal und im weiteren Sinn mit Erinnern und Vergessen auseinandersetzt)

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