Genforschung im 21. Jahrhundert und Wissenschaft vor zwei Jahrhunderten – wenn beide aufeinandertreffen, sprühen die Funken.
Johanna Mawet, eine junge, ehrgeizige und eigenwillige Molekularbiologin, ist von ihrem Arbeitsplatz in einem bayrischen Forschungsinstitut an ihren zweiten Arbeitsplatz in einem Universitätscampus der amerikanischen Ostküste gereist. Johanna, eine der beiden Hauptfiguren in Thea Dorns Roman «Die Unglückseligen», nutzt alle Möglichkeiten, die ihr als Wissenschaftlerin zur Verfügung stehen, um der Utopie der Unsterblichkeit näher zu kommen. Sie forscht an Mäusen und Zebrafischen. Viel lieber würde sie an menschlichen Stammzellen forschen, denn es geht ihr ja um die Verlängerung des menschlichen Lebens. Ein entsprechendes Projekt wurde ihr jedoch gerade von der zuständigen Ethikkommission verboten. Entsprechend grösser ist ihr Antrieb, gepaart mit Frustration, in ihrer Forschung weiterzukommen.
Beim Einkaufen trifft Johanna auf einen seltsamen Mann, der zunächst ziemlich verwirrt und hilflos wirkt, zumal er im Supermarkt den niedrigsten Job hat: Einpacker hinter der Kasse. Johanna, fahrig und gereizt, verletzt ihn leicht und fühlt sich schuldig. Von nun an verknüpfen sich die Wege der beiden. Johanna glaubt lange, dass der Mann, der sich Johann Wilhelm Ritter nennt, beziehungsweise, da er nun in den USA lebt, John William Knight, ein Spinner oder ein Aufschneider ist. Ritter erzählt nämlich, er kenne Humboldt und Herder persönlich, auch die grossen Dichter der deutschen Romantik Brentano, Schlegel und Arnim. Ja selbst mit Goethe habe er näheren Kontakt gehabt. Ein Blick in Wikipedia zeigt Johanna, dass es wirklich einen Gelehrten dieses Namens gab, geboren 1776, der 1810 nach einer der napoleonischen Schlachten ums Leben kam. Sie erfährt auch, dass Ritter damals ebenfalls ein entdeckungsfreudiger Forscher war, der bis über seine Grenzen ging: Er experimentierte mit der neu entdeckten Elektrizität. – Darüber lesen wir in diesem Roman noch einiges.
ein ABI 3100 16-capillary DNA-Sequenziergerät. © Michael Pereckas / commons.wikimedia.org
Johanna kann nicht anders, als zu versuchen, mit ihren Methoden herauszufinden, ob dieser Johann Ritter wirklich nicht das Blaue vom Himmel phantasiert: Sie lässt die DNA von Ritter analysieren und überschreitet schon wieder ihre Kompetenzen, denn im US-Institut forscht sie ja nur an Tieren. Damit erregt sie die Neugier und das Misstrauen ihrer Kollegen, die sie zudem in Gesellschaft dieses merkwürdigen Mannes sehen, den niemand einzuschätzen vermag. Die Handlung verwickelt sich weiter, als Johanna die Analyseergebnisse erhält: Verschiedene Sequenzen passen ganz und gar nicht zu den üblichen Mustern eines menschlichen Genoms. Von nun an dreht sich das Karussell allmählich immer schneller. Für uns Lesende heisst das, es wird immer schwieriger, das Buch wegzulegen.
Thea Dorns Roman ist nicht einfach ein Thriller mit wissenschaftlichem Anstrich. Abgesehen davon, dass die Fakten gut recherchiert und verständlich dargestellt werden, versteht es die Autorin, den Lesenden auch durch ihre Stilwechsel Vergnügen zu verschaffen. Johanna Mawet spricht und denkt im heute üblichen Jargon. Johann Ritter hingegen kann sich noch so sehr um den heutigen Sprachgebrauch bemühen, seine Sprache bleibt von seiner schlesischen Herkunft geprägt, seine Ausdrucksweise bleibt altmodisch, was ihn zum Aussenseiter macht. Zudem treten Erzähler auf, die ebenfalls ihrer Rolle gemäss sprechen. – Erst mit der Zeit merkt man, dass auch Luzifer sich einmischt und schwarze Magie ins Spiel kommt. Dazwischen gibt es Zitate aus 200 Jahre alten Wissenschaftstexten. Nicht nur Sprache und Wortschatz, auch die Druckschrift nutzt die Autorin für ironische Seitenhiebe. Und Johann Ritter mit seiner Weltsicht von 1800 wähnt einen «Apfelbund» zu erkennen, als er unter den Studenten und Dozenten viele Menschen mit flachen silbernen Kästen sieht.

Am Ende fragen wir uns, wer eigentlich unglückselig ist: Johanna, weil sie (fast) bis zum Ende versucht, dem Rätsel der Unsterblichkeit auf die Schliche zu kommen – wer dächte nicht an Dr. Faustus. Oder Johann, weil er in unentwirrbare Fallstricke der Geschichte verwickelt ist, aus denen er sich wohl nicht befreien kann – wir könnten uns an den «ewigen Juden» Ahasverus erinnern. Die Realität von Tod und Sterblichkeit, aber auch die Faszination der Unsterblichkeit stehen hinter allem wie in einer universellen Tragikomödie.
Thea Dorn (geboren 1970) ist Dozentin für Philosophie an der Freien Universität Berlin und hat einige vielbeachtete Romane, Sachbücher, Theaterstücke und Drehbücher verfasst. Sie wurde dafür mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet.
Thea Dorn, Die Unglückseligen. Roman.
Knaus Verlag 2016; 560 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-8135-0598-6
auch als Hörbuch (für MP3 und als Download) und als E-Book erhältlich.