Der Islamwissenschaftler und Philosoph Souleymane Bachir Diagne ist überzeugt, «dass die Philosophie der Glaubenslehre zeitlich voraus geht».
In seiner Eigenschaft als ausgewiesener Islamwissenschaftler hat Professor Diagne einem Magazin Antwort gegeben auf diese Frage: «Wie ist im Koran Ihrer Meinung nach der viel zitierte Vers 2:256 zu verstehen?»- Seine Antwort lautete: «Es gibt keinen Zwang in der Religion“. Das bedeutet in der Religionswissenschaft, dass man niemand zwingen kann, an die Religion des Islam zu glauben.
Und darf denn wirklich im Koran nur das geschriebene Wort wortwörtlich, sozusagen Wort für Wort, gelten? Mit anderen Worten gefragt: Darf man den Koran interpretieren? Die Antwort lautete: «Selbstverständlich, denn jeder Text bedarf der Auslegung, insbesonders ein heiliger».
Beispiel: Vers 2: 256 sein. «Man kann ihn auf drei Ebenen lesen: Oberflächlich betrachtet heisst das: Niemand soll gezwungen werden, sich zu einer bestimmten Religion zu bekennen. Etwas tiefer betrachtet: Zwang widerspricht seiner Natur nach dem Glauben, weil der Glaube eine Angelegenheit des Einwilligen ist, – eines Einwilligens in Gott. Letztlich gilt es heutzutage, diesem Vers eine noch stärkere Bedeutung zu geben. Wir entwickeln uns nämlich hin zu Gesellschaften, in denen es keinen Zwang mehr gibt“.
«Was allerdings die Fundamentalisten davon halten, kann man sich denken». [«Es gibt gegenwärtig eine starke Tendenz, von Fundamentalismus im Singular zu sprechen»]. Doch die Entwicklung der Welt – so Mr. Diagne – macht den Pluralismus überall unumgänglich.
Zitat: «Der Mensch ist zum Menschen dank der Vernunft geworden».
Souleymane Bachir Diagne, geboren 1955 in Saint-Louis, ist ein senegalesischer Islamwissenschaftler und Philosoph. Er studierte in Paris, war dort Schüler von Louis Althusser und Jacques Derrida. Derridas Philosophie geht von der Grundannahme aus, dass es keine absolute Wahrheit gibt.
Sein Schüler Diagne ist einer der Stars auf dem Gebiet islamischen Philosophie. Darüber hinaus ist er auch für den Bereich «Französische Sprache» an der Columbia University of New York zuständig.
Von der Zeitung «Jeune Afrique» wurde er unter die 50 bedeutendsten Personen Afrikas gewählt. Er erklärte im Magazin «Global Voices»: «Wenn die Jugend Afrikas zu dem Schluss kommt, dass ihre Zukunft anderswo liegt, wird das ein unlösbares Problem. Heute sagt man, dass Afrika mit seinen hohen Wirtschaftsraten wirtschaftlich floriert. Doch davon merken die Armen nichts…».
Als Philosoph ist er der Überzeugung, «dass ja die Philosophie der Glaubenslehre zeitlich voraus geht». Diagne zitiert den ägyptischen Literaturwissenschaftler Abu Zaid: „Der Koran ist eine religiöse Autorität, aber nicht der Bezugsrahmen etwa für die Erkenntnisse der Geschichte oder der Physik. Es verstärke sich jedoch gegenwärtig die Tendenz zu behaupten, der Koran enthalte bereits alle Wahrheiten, die die Vernunft je erkannt hat oder noch erkennen wird. Das ist gefährlich …, denn das zementiert seine Rückständigkeit oder es verwandelt sich der Koran aus einem Offenbarungstext in einen politischen, wirtschaftlichen oder juristischen Traktat.»
Zitat: «Die Philosophie hat keinen Anfang und kein auserwähltes Land».
Bevor man sich als Fundamentalist auf eine mehr oder weniger gewaltsame Zurückweisungen der Moderne beschränkt, so Souleymane Diagne, sei es vernünftig, mit dem Versuch zu beginnen, sich einsichtig zu machen, dass es möglich und unabweisbar nötig ist, die Philosophien, die Religionen und die Nationen von Adjektiven zu trennen.
Zitat: «Die einzige wirkliche ‹Schlacht›, die es in der islamischen Welt zu bekämpfen gilt, ist die gegen die Unwissenheit («c’est celui contre l’ignorance»). Wohl sei die Rück-Besinnung auf das Ursprüngliche für die Fundamentalisten verbindlich. Doch was man in der Moderne vom Fundamentalismus mit seinen „versteinerten Interpretationen“ verlangen sollte, ist: den ‹Geist einer Religion› zu erfassen, um besser auf die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen antworten zu können.
So werde logischerweise nach und nach ein ‹Fundamentalismus› entstehen, der sich zur Zukunft hinwendet – „folglich reformatorisch ist“. Meint Mr. Diagne.