Eine französischsprachige Mutter, ein exzentrischer Vater und drei Söhne: der Schriftsteller Alain Claude Sulzer erinnert sich an sein Erwachsenwerden im Dorf Riehen bei Basel.
Selbstverständlich ist es nicht unschwierig, dieses Erwachsenwerden, es ist sogar erschwert durch spezielle Begebenheiten. Die Eltern lernen sich in einer Nerven-Klinik kennen: Mutter „Quiqui“ als Krankenschwester, Vater Max als Patient. Die Mutter, eine Romande, die nie richtig Deutsch lernt, war davor in Portugal verlobt. Warum sie damals nicht geheiratet hat, bleibt im Vagen. Und jetzt folgt eine höchst formlose Trauung, es ist, was man damals eine Muss-Heirat nennt. Man bleibt katholisch, wie die Mutter.
Vor allem die Mutter hat eine weit verzweigte Verwandtschaft. Viele sind „fameux/ fameuses“ – Leute, deren Lebenswandel nicht über alle Zweifel erhaben ist. Eine der Tanten, „das Tanti“ ist mit seinem reich bestückten Bücherregal wichtig für den jungen Alain. Manch ein Leser wird hier wohl an seine eigene Kinder- und Jugend-Lektüre erinnert.
Der Vater pflegt ein besonders enges und immer noch höchst kindliches Verhältnis zu seiner Mutter. Ohne ihn wäre es auch gegangen, sagt der Junge später. Was heissen mag: die Ehe zwischen der eifersüchtigen Mutter und dem nicht immer treuen Vater war wohl nicht eben harmonisch. Das zeigt sich auch am avantgardistischen Haus
Es ist nach den Vorstellungen von Vater Max erbaut, innen und aussen anders als alle anderen: Schwarze Spannteppiche und schwarz-weisse Tapeten, ein Flachdach, das undicht ist und eben kein Dach über dem Kopf gewährt. Das Haus ist Max‘ ganzer Stolz, es wird sogar in einer Architektur-Zeitschrift vorgestellt. Aber: es ist nicht das Haus der Mutter, sie verabscheut es aus tiefster Seele. Zeitlebens bleibt sie eigentlich in der Romandie zu Hause, wo die Leute offener und gesprächiger sind. Die Meinungen der Eltern gehen – für die Kinder bemerkbar – bei Vielem weit auseinander.
Die Mutter behält die Oberhand: Nach langen Jahren des Nörgelns wird der schwarze Teppich durch roten Klinkerboden ersetzt. Auch die schwarz-weissen Tapeten verschwinden. Rot und Orange, die Lieblingsfarben der Mutter, halten Einzug. Am Ende ist das Haus – mindestens innen – kaum mehr wieder zu erkennen. Und das Dach ist dicht!
Kein Sofa, kein Klavier
Der Junge Alain hätte sich einiges gewünscht: ein Klavier, einen Pool, einen Fernseher. Nix da. Aber warum auch kein Sofa? Nur eine unbequeme Couch, auf der man aufrecht sitzen muss. Gemütlich und kuschelig sind Fremdwörter, sie kommen in der Sprache der Mutter nicht vor. Alain ist 14, als endlich ein Fernseher angeschafft wird – und ein Sofa. Nirgends schläft er so schnell ein wie dort – vor allem wenn der Apparat läuft, sagt er. Mehr interessiert ihn das Radioprogramm, mit dem er sich als Sprecher übt. Sogar mit einem richtigen Mikrophon von Franz Carl Weber.
Und dann gibt es auch in seinen Jugendjahren die unverwüstlichen und unsterblichen SIW-Heftchen (eigentlich SJW-Hefte), die Generationen von Primarschülern Wissen vermitteln sollen – ohne ablenkende, höchstens mit unterstützenden Illustrationen. Beiträge z.Bsp. über Pfahlbauer von Carl Stemmler, der im Radio auch Kinderstunden liest, gehören zu den Favoriten des Autors. Und was in kaum einem Kinderleben damals fehlte: die unverkennbare Stimme der Radio-Märchentante Trudi Gerster. Ihr widmet er ein ganz besonderes Kränzchen.
Verhinderte Tanz- und Kirchenkarriere
Schlechte Haltung, dagegen gibt es nur sportliche Ertüchtigung. Alain wird gezwungen, ein halbes Jahr im Turnhallen-Mief das sogenannte Buckeliturnen zu besuchen. Ballett ist die Alternative, obwohl sich der Junge zunächst nichts Genaues darunter vorstellen kann. Trotzdem kann es ihn nicht schrecken, auch als er merkt, dass er enge Strumpfhosen tragen muss und zwischen lauter Mädchen in Tutus in krasser Minderheit ist. Russisch ist das Zauberwort für alle und alles. Seine Tanzkarriere wird jedoch von einer aufmerksamen Garderobiere verhindert. Sie alarmiert die Eltern Sulzer, der Choreograf habe ein Auge auf den Jungen geworfen. Alain hat es nicht bemerkt.
Viel mehr Eindruck macht ihm ein Vikar, der über dem Boden zu schweben scheint. Alain ist berührt vom Ritual der Kirche, er spielt es zuhause nach und versucht sogar, zwei Diakonissen zu bekehren. Eine Karriere in der Kirche scheint ihm erstrebenswert. Den Traum beendet er aber abrupt, als er merkt, wie wichtig das sechste Gebot über die Keuschheit ist.
Vorsichtige Annäherung an die Sexualität
Man ist noch sehr verklemmt im ländlichen Riehen während der Jugendzeit Sulzers. Die Kinder werden nicht wirklich aufgeklärt, erfahren hier und dort nur Vages. Die Mutter erklärt dem Jungen, er dürfe nicht zu viel Porridge essen, weil Haferflocken das Sexualverlangen steigert. Dem Wort Sex begegnet er erstmals im Buch „Le deuxième Sex“ von Simone de Beauvoir. Mit Absicht oder nicht, lässt es seine Mutter offen herum liegen.
In Riehen gibt es keine Schwulen, ganz unter dem Motto: was nicht sein darf, kann nicht sein. Um sie zu treffen, muss man in den Sündenpfuhl in die Stadt. Sulzer macht Bekanntschaft mit ihnen, als er für kurze Zeit den Ballett-Unterricht im Stadttheater besucht. Und merkt in der Schule, dass ihn die verbogene Hand des Lehrers in der Tasche des Kittels magisch anzieht, so, wie es keine Frauenhand tun könnte. Aber noch kann er sich das nicht erklären.
Zunächst weckt ein Mädchen mit langen roten Zöpfen seine Aufmerksamkeit. Er könne sich vorstellen, ihr einen Heiratsantrag zu machen, schreibt er. Aber die recht distanzierten und undefinierten Gefühle werden schnell enttäuscht, das Mädchen zieht mit seiner Familie für immer nach Afrika.
Dass er sich nach Männern sehnt, merkt Alain, als er im Stadttheater aus Versehen die Tür zu einer Dusche öffnet und sich einem nackten, eingeseiften Tänzer gegenüber sieht. Sie wagen es nicht, sich näher zu kommen. Aber Alain sehnt sich lange nach ihm, dem fremd gebliebenen Körper. Und weiss es jetzt.
Erinnerungs-Splitter
Es ist keine stringente Geschichte, die der 64-jährige Sulzer erzählt. Vielmehr sind es kleine und grössere Episoden, Erinnerungs-Splitter an seine Jugend. Etwa: der Musiker Paul Sacher, der täglich mit dem Milchkännchen auf dem Bauernhof seines Grossvaters erscheint. Die wundersame Spinnuhr, eine „Uhr gegen die Zeit“. Oder das bitterböse Kapitel über Frau Ueberwasser, die Mozart im Landgasthof Riehen vorträgt – ganz im Stil von Florence Foster Jenkins.
Kurze Kapitel, kurze Sätze, hilfreiche Fussnoten zur Einordnung und Erklärung bringen kurzweiliges und höchst vergnügliches Lesen. Leser, die ihre Jugendzeit auch in den 60-er und 70-er Jahren durchlebt haben, dürften sich vor allem angesprochen fühlen. Und zumindest für Sulzer ist der Titel des Buchs stimmig, ihm scheint seine Jugend fremdes Land geworden zu sein.
Alain Claude Sulzer: „Die Jugend ist ein fremdes Land“, erschienen bei Galiani Berlin, 222 S., ISBN 978-3-86971-150-8
Hinweise:
«52 beste Bücher», SRF 2 Kultur, 24. September, 11.03 Uhr
28. September, 19 Uhr, Lesung im Literaturhaus Basel – Moderation: Nicola Steiner