Der Jutesack

Schwarze Pädagogik im Bischofsgewand

Langsam führt Fräulein Lina ihren Zeigefinger an den Mund. Sie flüstert: “ Nehmt eure Stühle, stellt euch hintereinander auf, hier die Mädchen, da die Buben, ihr bis hierher, hier die zweite Reihe, ihr seid die dritte und ihr die vierte Reihe“.

Da sitzen die Kinder. So still, dass nichts zu hören ist. Alle im Sonntagskleid.
Das Kind spürt seine weissen Sonntagsstrümpfe. Sie kratzen.
„Rutscht nicht so herum!“ „ Psst.“
Da, das Glöckchen. Es klopft. Dreimal.

Langsam öffnet sich die Türe. Sankt Nikolaus, rot und weiss mit einem riesigen Jutesack über seinem Rücken, einen golden schimmernden Bischofsstab in seiner Hand. Dahinter Knecht Ruprecht. Schwarz. Kleid, Gesicht, Bart, alles schwarz. Das Klirren der Ketten, die Knecht Ruprecht rhythmisch auf den Boden schlägt, übertönt die geflüsterten Ausrufe einiger Kinder. Das Kind schluckt trocken, die verschwitzten Hände zwischen die Schenkel gepresst.

Sankt Nikolaus schaut schweigend über die Kinderreihen, stellt langsam seinen Jutesack ab und lässt sich von Knecht Ruprecht das goldene Buch reichen.“Lasst uns froh und munter sein“, Fräulein Lina stimmt an, hastig fallen die Kinder ein.

Mit einem weiteren Blick über alle Kinder öffnet Sankt Nikolaus das goldene Buch: „Viele von euch waren auch dieses Jahr wieder brav und haben den Eltern und Fräulein Lina viel Freude gemacht.“ Ein Kind nach dem andern wird nach vorne gerufen. Jedes Mal nimmt Sankt Nikolaus ein gefülltes Cellophansäcklein und überreicht es jedem der Kinder mit einer Ermahnung.

Das Kind rutscht auf seinem Stuhl herum. Hat Sankt Nikolaus es vergessen? Gehört es zu denen, die nichts bekommen? Plötzlich hört es seinen Namen. Dann hört es nichts mehr, sieht nur, wie sich die breiten, weissen Augenbrauen und der schimmernde Bart von Sankt Nikolaus auf und ab bewegen, während es sich bemüht , in seine Augen zu schauen.

Zwei, drei Kinder bekommen noch ein Cellophansäcklein, dann wird es still. Die Kinder sitzen regungslos auf ihren Stühlen, Knecht Ruprecht schlägt seine Ketten ein paarmal rasch hintereinander auf den Boden.

Wieder schaut Sankt Nikolaus langsam die Kinderreihen auf und ab. „Einige von euch waren aber gar nicht brav und folgsam dieses Jahr. Fräulein Lina musste oft traurig sein deswegen. Wo ist denn die Marlen? Jaja, dich meine ich, steh nur auf!“ Und mit lauter Stimme, während Knecht Ruprecht seine Ketten auf den Boden schlägt „Immer nur schwatzen! Nie zuhören! So geht das einfach nicht!“

Das Kind wagt nicht, sich umzudrehen. Es hört nur Marlens unterdrücktes Schluchzen hinter sich.
Auch Herbert, Franz und Rita müssen aufstehen. Und Otto?
Grad gestern hat er das Kind noch von hinten an den Zöpfen gerissen, während Fräulein Lina im Schrank nach dem roten Bast suchte.

Knecht Ruprecht geht die Reihen entlang. „Ha Bürschchen, verstecken nützt nichts. Komm einmal her zu mir. Und weil es so nicht weiter gehen kann mit dir, nehmen wir dich grad mit. Das wird dich lehren“. Knecht Ruprecht zieht den widerstrebenden Otto am Kragen nach vorne. Ruhig nimmt Sankt Nikolaus den leeren Jutesack vom Boden auf, fährt mit beiden Armen hinein, so, dass eine grosse Öffnung entsteht. Knecht Ruprecht packt den zappelnden Otto um die Brust zwängt ihn in den Sack und bindet zu. Der Sack bewegt sich nach allen Seiten. Kein Laut ist zu hören. Gemächlich nimmt Knecht Ruprecht den Sack über seine Schultern. Der Sack bewegt sich nicht mehr, Schluchzen ist zu hören.

„Auf Wiedersehen liebe Kinder und bleibt schön brav bis zum nächsten Jahr“. Mit einer segnenden Gebärde wendet sich Sankt Nikolaus zur Türe, hinter ihm Knecht Ruprecht mit dem Sack. Dann hört das Kind nur noch das Geräusch der Ketten.

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