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Lesen und flanieren an der Aare

Die Solothurner Literaturtage feiern ihren 40. Geburtstag

Das vierzigste Mal kann auch das erste Mal sein. Im Speisewagen von Olten nach Solothurn erkundigt sie sich beim Kellner, ob noch Zeit genug sei für einen Kaffee. Sie fährt erstmals an die Literaturtage. Vorgemerkt hat sie sich das Gespräch mit der Poetin Anja Kampmann und dem Dichter Tilo Krause zum Thema Naturlyrik. Vor allem aber will sie „flanieren“, das könne man während dieser drei Tage so gut, hat sie in der Zeitung gelesen.

Literaturtage-Gründer und Dichter Peter Bichsel auf der Flaniermeile vor dem Landhaus in Solothurn

Für Flaneure und Flaneusen sind die Literaturtage um Auffahrt grad wie beim allerersten Mal ein idealer Ort, sofern das Wetter gut ist. Zwar wächst der Anlass immer mehr in die Breite, aus dem von einer Handvoll Autoren wie Otto F. Walter, Peter Bichsel, Jörg Steiner und anderen aus Solothurn und anderswo erfundenen Leseanlass, bei dem sich Schreibende und Publikum in unangestrengtem Ambiente immer wieder über den Weg laufen, ist eine Institution geworden, die aus dem Jahreskalender von Literaturinteressierten nicht mehr wegzudenken wäre.

Auch während des nun viel grösseren Festivals kann man im oder vor dem Kreuz Peter Bichsel begegnen, ihn möglicherweise gar um das Signieren eines Buchs bitten, oder an einem Biertisch vor dem Landhaus unversehens in eine gesellschaftspolitisch-literarische Diskussion geraten, oder auch im Bücherladen schmökern. Franz Hohlers Aussage trifft auch beim vierzigsten Mal das, was die Solothurner Literaturtage von Buchmessen unterscheidet: „Die Schweizer Autoren sollten einmal jährlich zusammentreffen und persönliche und fachliche Gespräche führen, an denen sich das Publikum beteiligen soll.“

En français: Julie Gilbert (stehend) liest aus ihrem Buch «Tirer des flêches». Wie fast alle Lesungen ist auch diese gut besucht.

Heute wird mit grösserem Budget grösser angerichtet: Spoken Word und Kinder- und Jugendliteratur haben ihre Foren, gefestet wird nicht mehr nur im Kreuzsaal am Samstag Abend zu später Stunde, die literarischen Übersetzung hat ihren Schwerpunkt. Auch die Verleger sind zwar gern gesehene Gäste, aber eine Verkaufsmesse ist Solothurn nicht – auch wenn unzählige Bücher in diesen drei Tagen über den Ladentisch gehen.

Klaus Merz› Geburtstagsgruss auf einem Paneel am Klosterplatz bei der offenen Bühne

Eingeladen werden die Autorinnen und Autoren von einer Kommission, die alle drei Jahre neu bestellt wird. Sie kennt die Szenen und ermöglicht regelmässig Jungautoren – auch solchen mit vielen Jahren auf dem Buckel – erstmals vor grossem Publikum zu lesen. Erinnert sei an Helen Meier, die praktisch im Pensionsalter mit Trockenwieseeine sensationelle Entdeckung des Literaturbetriebs wurde. Diesmal sind zwölf neue Stimmen aus allen Landesteilen zu hören, darunter die Gymnasiallehrerin Barbara Schibli aus Baden, die mit Flechten debütiert.

Für die Schweizer Literatur ist das Lesefest eine unverzichtbare aktuelle Werkschau von grosser Bedeutung, nur Solothurn bietet nämlich Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus allen Sprachregionen eine Plattform. Schade, dass man nicht die noch lebenden Autorinnen und Autoren der allerersten Literaturtage einlud – wenigstens zum Flanieren und Zusammentreffen.

Raphael Urweider (Übersetzer) und Pedro Lenz (Autor von «Der Goalie bin ig») erklären, wie man das beliebte «oder?», und «weisch-wie-n-i-meine?» wohl in Standarddeutsch übersetzen könnte.

Mehrere Gespräche und Porträtversanstaltungen gelten der literarischen Übersetzung. Bei dem lockeren und doch fesselnden Gedankenaustausch von Pedro Lenz und Raphael Urweider, der den Goalie des ersten ins Standarddeutsche übertragen hatte, gab es zu staunen und zu lachen. Seit ein paar Jahren wird ausserdem der Solothurner Literaturpreis verliehen, den diesmal Peter Stamm entgegennehmen darf. Mariella Mehr, deren Trilogie 2017 neu verlegt wurde, wird geehrt, und Hansjörg Schneider feiert mit dem Publikum seinen Achtzigsten.

Hier hängen Briefe und Karten für unbekannte Empfänger – die einen erstellten sie, die andern werden sie lesen. Gastveranstaltung von «Platz da!?»

Die Werkschau der Schweizer Literatur blickt freilich seit den Anfängen über die Grenzen hinaus. 1979 war Franz Xaver Kroetz der Gast aus dem Ausland, diesmal sind es mehrere Gäste, darunter die holländische Autorin Margriet de Moor, Assaf Gavron aus Israel oder Robert Prosser aus Österreich.

Auch das sind die Literaturtage: Im Gasthaus Kreuz unterm Plakat der zufriedene Leser mit Buch und Wein.

Was würde ich meiner Speisewagen-Unbekannten noch ans Herz legen: Weiter flanieren, und die eine oder andere Kurzlesung am Landhausquai mithören. Einen Besuch im Künstlerhaus, wo Albertine, die mit dem Autor Germano Zullo Kinderbücher gestaltet, ihr Werk erstmals in der Deutschschweiz präsentiert. Vielleicht einen Brief oder eine Karte an Unbekannt schreiben und für spätere Passanten aufhängen: Interaktiv muss sein, geht aber auch mit Papier und Stift.

Und vor allem: eine Lesung, den Poesiesalon oder ein Gespräch besuchen, samstags beispielsweise Hansjörg Schneider der aus seinem möglicherweise letzten Buch liest oder Barbara Schibli, die ihr erstes präsentiert. Und sonntags wird die Wahl erst recht schwierig. Eine literarische Praline ist das Jubiläumsgespräch von Peter Bichsel, genialer Schreiber und ebensolcher Redner, mit Regula Portillo, weitgereiste Solothurnerin, die ihr Debüt am Freitag hatte.

Das erste und das letzte Plakat. Alle vierzig sind samt der Geschichte der Solothurner Literaturtage online.

Fotos: E. Caflisch
Ein Programmheft mit «Stundenplan» liegt auf und kann zuhause online studiert werden, Tickets bekommt man vor dem Landhaus oder auch direkt bei den Veranstaltungen. Es gibt zudem einen Katalog mit vertieften Angaben zu den Schriftstellerinnen und Schriftstellern sowie allen Veranstaltungen . 
Alle weiteren Infos finden Sie hier

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