Verworrenes Justizspektakel: Frank Castorf inszeniert am Schauspielhaus Zürich in einer Mammutaufführung Dürrenmatts Kriminalroman «Justiz».
Der stadtbekannte Alt-Kantonsrat Dr. h.c. Isaak Kohler erschiesst im Restaurant «Du Théàtre» vor aller Augen den Universitätsprofessor Adolf Winter. Obwohl nicht der geringste Zweifel besteht, dass Kohler der Mörder ist, wird diese Tatsache in Dürrenmatts Kriminalroman «Justiz» in den Augen der Gesellschaft je länger je zweifelhafter. In einem Revisionsprozess wird Kohler freigesprochen und die Tat einem offensichtlich Unschuldigen, dem undurchsichtigen Nachtschwärmer Dr. Heinz Benno, angelastet. Der stets von Geldsorgen geplagte junge Anwalt und Ich-Erzähler Felix Spät, der den Freispruch selbst zu verantworten hat, wird in seinem Kampf für Gerechtigkeit zur lächerlich-absurden Figur und endet im Suff. Nicht die Gerechtigkeit triumphiert, sondern die Justiz, die sich als Spielball machtvoll vertretener Einzelinteressen erweist. Der Roman ist grell, skurril, phasenweise witzig und zeichnet sich durch eine verworrene, aber auch verblüffende Handlung aus.
Schön entlang der Dürrenmattschen Handlung
Grell und skurril ist auch die von Frank Castorf, ehemaliger Chef der Berliner Volksbühne und bekannt für ausgefallene Inszenierungen, erarbeitete Aufführung im Zürcher Schauspielhaus, die am Wochenende im Pfauen Premiere feierte. Geschlagene fünfeinhalb Stunden dauert das verworrene Justizspektakel, das keine Klärung bringt, vielmehr ein Durcheinander an krassen Begegnungen und Überlegungen, schön entlang der Dürrenmattschen Handlung und angereichert mit weiteren bitterbösen Dürrenmatt-Texten. Dazu schreibt Castorf im Programmheft: «Es ist ja nicht selten so, dass wir nicht mehr wissen, was wir getan haben. Und vielleicht ist das so in einer Gesellschaft, die immer schwerer zu erkennen ist in ihren Wahrscheinlichkeiten, in dem, was wirklich ist, in dem, was gesellschaftliche Praxis ist, dass man immer weniger weiss, wie die Welt ist.»
Vor dem Bellevue-Rondell (v.l.): Ueli Jäggi, Irina Kastrinidis, Robert Hunger-Bühler.
Rückwirkend wird der Kriminalplot erzählt. Spät ist soeben vom Flughafen zurückgekommen, wo er versucht hat, Kohler zu erschiessen. Doch als der Anwalt mit entsicherter Waffe aus dem Auto sprang, hob Kohlers Maschine bereits nach Australien ab. Spät nimmt sich vor, trinkend auf die Rückkehr Kohlers zu warten und sich die Zeit im Zürcher Rotlichtmilieu zu vertreiben. Mit unzähligen Wendungen wird der spektakuläre wie unerklärliche Mord Kohlers in drastischen Bildern nachgezeichnet. Mit im Spiel sind Kohlers Tochter Hélène, die in jungen Jahren vergewaltigt wurde und auf Rache sinnt, Späts bisexueller Freund und Justizgehilfe, zwei Prostituierte und das Kind Mikis Kastrinidis, das die verkrüppelte Tochter eines Wirtschaftsmagnaten spielt und die Vergewaltigung Hélènes veranlasste. Dazwischen werden Reden geschwungen über den schmutzigen Waffen- und Prothesenhandel, über ausländische Steuerhinterzieher, über die nutzlose Armee und vieles mehr.
Mit dabei ist immer die Live-Kamera
Vordergründig werden nur wenige Szenen gespielt. Der Grossteil des Geschehens wird im Innern des Bühnenaufbaus ausgebreitet und per Live-Kamera auf Leinwände im Vordergrund übertragen. Real existierende Bauten in der Stadt Zürich, das Belcafé am Bellevue, das Sexkino Roland und das Corbusier-Haus im Seefeld, kunstvoll ineinander verschachtelt auf einer Drehbühne montiert (Bühnenbild: Aleksandar Denić), vermitteln just vertraute Orte, die dem vertrackten Spiel einen zusätzlichen Drive verleihen. Drinnen wird gehurt, brutal vergewaltigt, palavert, gekotzt, gehastet. Mit dabei immer die Live-Kamera, die das bunte Treiben minutiös bis zum Schweisstropfen einfängt. Und immer wieder im Bild Billardkugeln, die als Sinnbild für geschubste Menschen an die Bande gestossen werden.
Im Bordell: Julia Kreusch und Ueli Jäggi. Fotos: Matthias Horn
Die Spielenden mühen sich redlich ab, ihre schauspielerische Anstrengung ist bewundernswert. Allen voran Alexander Scheer, der den schneidigen Jung-Juristen Spät facettenreich und durchwegs glaubhaft bis zur Erschöpfung verkörpert. Nicht minder eindrücklich spielt Irina Kastrinidis als Tochter Hélène eine ernsthafte Rachefigur. Robert Hunger-Bühler verleiht der Figur Dr. h.c. Kohler mit monotonen Monologen ein beinahe gespenstisches Volumen. Grossartig Ueli Jäggi, wie er zum Schluss Dürrenmatts emmentalerisch behäbiges, rollendes Hochdeutsch imitiert und vor Anstrengung erschöpft zu Boden fällt. Grossartig auch Nicolas Roset als Gipfeli verschlingender, fetter Immobilienhai. So erträglich oder unerträglich die Inszenierung mit ihren vielen Einschüben und grotesken Figuren zu sein mag, sie langweilt nie und vermittelt ein grandioses Bild einer kaputten Welt voller Intrigen und Lügen, in der Justiz, Recht und Gerechtigkeit nur noch leere Worte sind.
Weitere Spieldaten: 20., 28., 30. April, 1., 12., 18., 21., 23., 27. Mai