StartseiteMagazinKulturSelbstzerstörung einer Grossgrundfamilie

Selbstzerstörung einer Grossgrundfamilie

Andreas Maier, der 1967 im hessischen Bad Nauheim geborene Schriftsteller, hat sich einiges vorgenommen. In nicht weniger als elf Büchern will er, unter dem Projekttitel «Ortsumgehung», die Geschichte seiner Familie literarisch nacherzählen und damit auch besser verstehen.

Gestartet hat er sein Projekt 2010 mit dem Titel «Das Zimmer». Inzwischen ist Maier mit «Die Familie» bei Band sieben angelangt. Und es gibt eine Neuigkeit zu vermelden: In diesem Buch hat der Autor die starre Form des Romans aufgegeben, da sie nicht mehr aktuell sei. Die Form folge hier der Entwicklung seiner Figuren, womit «Die Familie», anders als seine vorherigen Bücher, sich dem aktuellen Trend der autofiktionalen Literatur annähert.

Maier schaut in der Auseinandersetzung bezüglich seiner Herkunft mit einem ausgeprägt distanzierten Blick nicht nur auf seine eigene Familie, sondern ganz allgemein darauf, wie Familien funktionieren. Nach aussen erscheint alles in höchster Vollendung, doch im Innern brodelt es, und nur mit grösster Mühe lassen sich diese Turbulenzen vertuschen. Diese Vertuschung gelingt auch der Familie Maier in ihrem Dorf Wetterau über weite Strecken ganz gut. Der Vater, Rechtsanwalt und bei Bedarf juristisch gerissen, die Mutter, wohlhabende Erbin und Direktorin der Steinwerkefirma, besitzen das mit Abstand grösste Grundstück am Ort und sind entsprechend einflussreich.

Eine erste Irritation erleben sie, als der ältere Bruder des Protagonisten und Ich-Erzählers Andreas sich aus der jahrzehntelangen CDU-Familientradition löst und sich mit Begeisterung im «Kinderplaneten» aufhält, aus der Sicht der Eltern eine verkappte rote, also linke Werbe- und Propagandaveranstaltung mit verheerendem Einfluss auf die Jugend. Auch die Tochter gerät ganz und gar nicht nach dem Wunsch der Eltern, führt ein unstetes Leben, mal in den USA, dann kehrt sie unangemeldet mit ihrem Mann und den drei Kindern zurück in die Wetterau, erwartet selbstverständlich Unterstützung, die ihr die Mutter zunächst verweigert, dann der Entschlossenheit der Tochter jedoch nicht länger standzuhalten vermag, worauf die Tochter völlig überraschend erneut verschwindet. Einzig Andreas scheint noch ein einigermassen akzeptables Leben zu führen, jedenfalls so, dass sich die Mutter in ihrer Verzweiflung immer wieder telefonisch an ihn wendet, der schon seit einiger Zeit in Frankfurt Philosophie und Germanistik studiert. Allerdings lüftet genau dieser Sohn im Laufe seiner Recherchen eine bis anhin erfolgreich tabuisierte familiäre Ungeheuerlichkeit.

So wohnen wir als Lesende der unaufhaltsamen und dennoch recht locker erzählten Selbstzerstörung einer Grossgrundfamilie bei und warten gespannt auf Maiers nachfolgende Werke. Der elfte und letzte Band soll gemäss Planung den Titel «Der liebe Gott» tragen. Bis dahin werde es aber noch sechs, sieben Jahre dauern.

Andreas Maier: Die Familie. Roman. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019. 166 S.

***

Dagmar Schifferli, 1951, hat in Zürich Sozialpädagogik und Psychologie studiert, später ein Zusatzstudium in Gerontologie absolviert. Während vieler Jahre war sie als Dozentin in diesen Fachgebieten tätig. Seit 1996 veröffentlicht sie Romane (u.a. Anna Pestalozzi-Schulthess, Wiborada, Leben im Quadrat), Erzählungen, Kurzgeschichten in Anthologien sowie Fachartikel in Sachbüchern. Ausserdem unterhält sie eine Kolumne im Grosseltern-Magazin. Zuletzt erschien von ihr der Roman «Wegen Wersai» (2018), eine Kindheit Mitte der 1960er-Jahre in der Schweiz während der wiedererstarkenden Fremdenfeindlichkeit. – Die Seniorweb-Redaktion heisst Dagmar Schifferli als neue regelmässige Mitschreiberin herzlich willkommen. 

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