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Als Frau unsichtbar gemacht

Der brasilianisch-algerische Regisseur Karim Aïnouz schildert im Film «The Invisible Life of Eurídice Gusmão» das Leben von zwei Schwestern, deren Gemeinschaft von Männern vernichtet wird.

Wir schreiben das Jahr 1951. Die beiden unzertrennlichen Schwestern Eurídice Gusmão (jung Carol Duarte, alt Fernanda Montenegro) und Guida Gusmão (Júlia Stockler) leben in einem konservativen Haushalt irgendwo in Rio de Janeiro. Der Vater ist Bäcker, die Mutter Hausfrau. Eurídice, die Jüngere, ist eine begnadete Pianistin, die davon träumt, einmal nach Wien ans Konservatorium gehen zu können. Doch der Vater hat einen anderen Plan für sie, er heisst Antenor und ist der Sohn des Mehllieferanten. Guida wiederum schleicht sich gerne nachts aus dem Haus und träumt von der wahren Liebe. Schon bald meint sie diese in Yorgos, einem griechischen Matrosen, gefunden zu haben, und folgt ihm nach Griechenland. Doch der Traum der Hochzeit platzt rasch, zu viele andere Frauen haben am Pier auf ihn gewartet; als sie zurückkehrt, ist sie schwanger und bringt so eine unsägliche Schande über die Familie. Sie wird vom Vater verstossen und jeglicher Kontakt mit dem Rest der Familie unterbunden. Als wäre dieser Ausschluss nicht schon brutal genug, belügt er sie noch, um sie von Eurídice fernzuhalten, und erzählt, die inzwischen mit Antenor verheiratete Schwester verfolge nun ihren Traum in Wien, wodurch er das Schwesternpaar für das ganze Leben trennt.

Guida, die ältere Schwester, vor dem Spiegel

Heiteres Lachen, vom traurigen Schicksal verschlungen

Der Film beginnt mit paradiesisch schönen Flora- und Fauna-Bildern in einer exotischen Landschaft, in welcher zwei glückliche Schwestern sich aufhalten. Sie verlieren sich, suchen, finden sich wieder und verleben wilde Unternehmungen in schwesterlicher Gemeinschaft. Der Anfang lässt einen eine tropisch sinnliche Geschichte erwarten, wäre da nicht das verräterische Wörtchen «invisible» im Titel. Im Verlauf der Geschichte wird die sichtbare Eurídice allmählich unsichtbar. Dies erzählt das faszinierende Melodrama in seinen mit Klavierklängen untermalten Bildern, von Szene zu Szene ernsthafter, dramatischer, schliesslich tragischer, bis es am Ende in einer wunderbaren Coda versöhnlich ausklingt.

Ich habe «The Invisible Life of Eurídice Gusmão» des Brasilianers Karim Aïnouz kurz nach «Adam» der Marokkanerin Maryam Touzani visioniert. Das hat mich zu unerwartet profilierten Deutungen der beiden grossartigen Filme geführt. Die Botschaft des Touzani-Films besteht in einer ansteigenden positiven Bewegung zu mehr Lust und Menschlichkeit, welche zwei Frauen im Umfeld einer Mutterschaft erleben. Im Gegensatz dazu geht die Bewegung im Aïnouz-Film in die Gegenrichtung, nach unten, unaufhaltsam, sich beschleunigend und in einem Verschwinden des Glücks und schliesslich der Persönlichkeit von Eurídice und der freundschaftlichen, schwesterlichen Beziehung zu Guida.

Die Männer verunmöglichen es den Frauen, deren Träume und Lebensentwürfe zu verwirklichen, nachdem Eurídice sich zuvor Hals über Kopf in einen griechischen Seemann und Abenteurer verliebt und Guida einen konservativen, langweiligen Arbeiter geheiratet hat. Da Eurídice ein uneheliches Kind von Griechenland heimbringt, wird sie auf dem Haus verjagt. Sie wird verachtet, ausgenutzt, missbraucht, vergewaltigt, belogen, von der Schwester getrennt, gedemütigt und schliesslich psychisch unsichtbar gemacht, bis zum «Nichts, zu dem Eurídices Leben zusammengeschrumpft war», wie es in der Buchvorlage heisst. Dass hinter solchem Verhalten eine Moral steckt, ist offensichtlich: Der Cristo Redentor hoch über Rio de Janeiro erscheint immer wieder im Bild. Die beiden Schwestern erleben eine Welt, die für sie nicht gut ist, weder physisch noch psychisch, weder sozial noch juristisch, weder strukturell noch politisch, weil sie Frauen sind. Dass diese Geschichte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Südamerika abspielt, kann nicht als Erklärung, höchstens als Ausrede für das Drama, das hier abläuft, dienen.

Diese Abrechnung mit dem Machismus, dem ideologischen, menschenverachtenden Glauben an die Überlegenheit des Mannes über das weibliche Geschlecht, welche der Regisseur schonungslos vorführt, verdient Respekt, denn sie trifft eine gesamtgesellschaftliche, zeitlose Tragödie. Wenn am 25. November 2019 in der Tagesschau von SF in einem Bericht über die Situation der Frauen in der Schweiz von 19’500 Fällen häuslicher Gewalt berichtet wird, lässt uns dies aufhorchen.

Eurídice, als alte Frau

Die Buchvorlage, der Filmregisseur

Der Film basiert auf dem im Original gleichnamigen Buch von Martha Batalha (deutsch: Die vielen Talente der Schwestern Gusmão, Insel Verlag 2015). Dieses porträtiert parallel und über Jahrzehnte hinweg die Schicksale zweier Frauen, die den Bedingungen des Patriarchats unterliegen, in welchem die Wünsche und Bedürfnisse der Frauen unterdrückt werden und verbindet dies zu einem historischen Sittengemälde.

Karim Aïnouz, der Regisseur des Films und bildender Künstler, wurde 1966 in Fortaleza, Brasilien geboren. «The Invisible Life of Eurídice Gusmão», sein siebter Spielfilm, nach sechs an Festival prämierten Werken, wurde in Cannes mit dem Prix «Un certain regard» ausgezeichnet. Seine Verfilmung, die zwar von Batahas Fresko inspiriert ist, dramatisiert und radikalisiert die Vorlage in wesentlichen Aspekten und verändert das Melodrama so zu einem Gesellschaftsdrama.

Anfänglich vereint, schliesslich getrennt

Aus einem Interview mit dem Regisseur

Was hat Sie dazu inspiriert, diesen Film zu machen?

Es begann mit etwas sehr Persönlichem. Ich habe meine Mutter im Jahr 2015 verloren, sie war 85 Jahre alt. Sie war eine alleinerziehende Mutter, und es war nie einfach für sie. Ich spürte, dass ihre Geschichte und die Geschichten vieler Frauen ihrer Generation nicht genug erzählt worden waren. Sie waren in gewisser Weise unsichtbar. Zu dieser Zeit gab mir mein Produzent und Freund Rodrigo Teixeira das Manuskript für «A vida invisível de Eurídice Gusmão». Ich las es und fühlte mich der Geschichte sofort sehr nahe. Die Figuren erinnerten mich an meine Mutter und ihre Schwester, aber auch an viele Frauen in meiner Familie.

Was haben Sie bei diesem Film gelernt?

Jeder Film ist für mich eine neue Lernerfahrung, ein neues Abenteuer, wie eine neue Liebesgeschichte. Die grösste Lektion in diesem Film war für mich wohl, Frieden mit der Erzählung zu schliessen. Ich hatte immer eine sehr widersprüchliche Beziehung zur Narration, fühlte mich als Zuschauer zu ihr hingezogen, war aber als Macher ihr gegenüber skeptisch. Sie wirkt oft wie eine Zwangsjacke. Ihre Regeln und Parameter fühlen sich immer wie eine Domestikation an, als ob unsere Fantasie nicht wilder und abstrakter wäre als die Geschichte.

Regie: Karim Aïnouz, Produktion: 2019, Länge: 139 min, Verleih: trigon-film

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