Wie eine Künstlerin Extremes kreativ zu etwas Neuem verbindet, dokumentiert das Kunstmuseum Bern mit dem Werk der in Bern lebenden Japanerin Teruko Yokoi.
Die 95-jährige aus Japan stammende Künstlerin lebt seit 1962 in Bern. Die Farben auf ihren Bildern zeigen, so scheint es jedenfalls, die zwei Seiten des menschlichen Innenlebens, die helle und die dunkle. Braunrot bis zu einem Schwarz, das mit Gelb, Grün, Rot gesättigt erscheint, wirkt das Schattenreich; die Grund- und Mischfarben ofenbaren das Helle, Erwartungsvolle, Freudige, Optimistische. Die Farben sind in Formen und Windungen so angeordnet, dass sie wirken, als hätten sie lebensgeschichtliche Bekenntnisse zu erzählen. Liest man die Titel der Werke (obschon gerade die in dieser Sicht beispielhaftesten mit «Ohne Titel» bezeichnet sind), wird man in dieser Interpretation bestätigt. Meistens sind es Landschaften, erinnerte äussere und innere Orte jedenfalls.
Tiefer Herbst, 1957. Öl auf Leinwand 78,5 x 126,8 cm. Sammlung Schlossberg Thun. © the artist
Grün, Gelb, Blau, Rot und Weiss strahlen eine imaginativ abstrakte Idee dieser Landschaften aus. Ohne die konventionelle Perspektive anzuwenden, schaffen sie die Illusion des Zusammenspiels von Fläche und Raum, mit landschaftlichen Linien wie Flussräume zum Beispiel, häufig wie von weit oben aus der Luft gesehen.
Links: Von meinem hinteren Fenster, 1956, New York. Öl auf Leinwand 76 x 101,5 cm. Teruko Yokoi, Bern. © the artist
Rechts: Shizen (Natur), 1960. Öl auf Leinwand 145 x 113 cm. Teruko Yokoi, Bern.
© the artist
Ohne Titel, 1958. Öl auf Leinwand, 127 x 107,4 cm. Teruko Yokoi, Bern. © the artist.
Rätselhaft, trotz der entsprechenden grundlegenden Hinweise in den Texten des Katalogs, ist das immer wieder in verschiedenen Abwandlungen verwendete Bild der Raute, die offensichtlich zur japanischen Samurai-Kultur gehört. Doch die verschiedenen Varianten der Darstellung dieser Figur – und nicht zuletzt deren Platzierung auf der Gemäldefläche, ebenfalls von Fall zu Fall variiert – weckt nachdenkliche und weiterforschende Neugier. Was bedeutet zudem die Öffnung auf der einen Ecke, wohl ausnahmslos am Seitenrand? Sind es Tränen, die aus der Figur tropfen? Ist es Blut, stilisiert?
Das Verständnis für die Bedeutung dieser stereotyp in Teruko Yokois Werk enthaltenen figürlichen Metapher stellt sich höchstens intuitiv ein. Ist es die nie ganz verblasste Erinnerung an archetypische Symbole, das unbewusste Anlehnen an die Kultur von Land und Gesellschaft der Heimat, den Urgrund des Herkommens des begabten Mädchens?
Dualismus ist ein Kennzeichen der Kunst von Teruko Yokoi. Schriftstellerin wollte sie eigentlich werden. «Meine Bilder sind in Farbe geschriebene Gedichte», so die Künstlerin. Ihre Bilder lesen sich wie eine Synthese von Literatur und Malerei. Dualismus zeigt sich auch in ihrer Verbindung von japanischen Haikus und Wakas (traditionelle japanische Gedichte aus rund zwei Jahrtausenden), von kalligrafischen Elementen (Schriftzeichen) und vom wohl im Westen am besten bekannten Kirschblütenzweig-Symbol mit dem kreativen Element der Abstraktion. Die Künstlerin begegnet dem Abstrakten Impressionismus als Studentin in San Francisco (1954) und New York (1955).
Teruko Yokoi vor einem Werk im Chelsea Hotel, New York, 1959. © the artist
Vielfach ausgezeichnet, «anerkannt, nie berühmt», wie sie selbst bescheinigt, hatte sie als Dreissig- bis 38-Jährige mit der Synthese zwischen japanischer Tradition, die sie als gut gefördertes, begabtes Kind erlebte, und den Anforderungen und Stimmungen der Kunst- und Künstlerszene in den USA und 1960 in Paris zurecht zu kommen. Zusätzliche Widerwärtigkeiten vermochte sie mit ihrem intelligenten Humor und ihrer positiven Grundhaltung zu verkraften. Jung, begabt, Frau – und das in der männlich dominierten Künstlergemeinschaft weltweit! (Auch die GSMBA, die Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten hat bis 1972 keine Frauen aufgenommen.)
Blackout, 1960. Gouache auf Papier 37,8 x 28 cm. Teruko Yokoi, Bern. © the artist. (Zugleich Titelbild des Katalogs.)
Ihre Werke zeugen davon, wie Teruko Yokoi die starke Prägung ihrer Kindheit in der japanischen Heimat, die vielfältigen Anregungen in den USA und in Europa und nicht zuletzt auch die Freundschaften und gesellschaftlichen Kontakte – wie sie das alles in einem abwechslungsreichen, positiv geprägten Leben und Schaffen kreativ zu bewältigen imstande war.
Der Kuratorin Marta Dziewańska ist eine Schau im Kunstmuseum Bern zu verdanken – Teruko Yokoi. Tokyo – New York – Paris – Bern –, die Werke aus Sammlungen, Privatbesitz und aus dem Fundus der Künstlerin selbst aus der zentralen frühen Schaffensphase der 1950er- und 1960er-Jahre zeigt. Der Gang durch die Ausstellung vermittelt die Begegnung mit einer positiven Persönlichkeit, mit farbenfrohen, vielfältigen Bildern, mit starken symbolischen Signalen und einem offensichtlichen Eindruck von Dualität und Synthese.
Von grossem informativem Gehalt sind auch die Beiträge im Katalog, darunter ein aufschlussreiches Interview mit der Künstlerin. (Teruko Yokoi. Tokyo – New York – Paris-Bern. Hrsg. v. Marta Dziewańska und Nina Zimmer. Ausgabe in deutscher und englischer Sprache, 168 Seiten, 100 Abb., Hatje Cantz, ISBN 978-3-7757-4682-3.)
Teruko Yokoi umgeben von ihren Werken im Chelsea Hotel, New York, 1959. © the artist.
(Zugleich Beitragsbild)
Die Ausstellung dauert bis 10. Mai 2020.
Soeben lese ich, dass Teruko Yokoi am 28. Oktober im hohen Alter von 96 Jahren gestorben ist. «. . . sie durfte alle ihre Altersbeschwerden zurücklassen und friedlich einschlafen», schreiben ihre Angehörigen.