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Lügen und leben lassen

Der japanische Meisterregisseur Hirokazu Kore-eda hat, mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche, den Film «La Vérité» gedreht: ein vielschichtiges Gleichnis über Wahrheit und Lügen, Leben und Kino. – Ab 4. März im Kino.

Die Schauspielerin Fabienne gilt als Ikone des französischen Kinos. Zur Vernissage ihrer Memoiren «La Vérité» reist ihre Tochter Lumir, Drehbuchautorin, mit Ehemann Hank, Schauspieler, und ihrem Töchterchen Charlotte von New York nach Paris. Das Wiedersehen von Mutter und Tochter weckt Erwartungen und erzeugt Dramatik, und es entwickelt sich eine radikale und einfühlsame Auseinandersetzung zwischen zwei Frauen und zwischen Leben und Schauspiel.

Enthüllungen und Entdeckungen

Schon bei der ersten Lektüre der Biografie entdeckt Lumir, dass vieles darin, ihrer Meinung nach, nicht stimmt. So die Beziehung der Mutter zur Tochter, die in strahlendem Lichte beschrieben ist. Weiter, dass deren verstorbene Freundin und Rivalin Sarah unerwähnt bleibt. Für beide Frauen beginnt damit eine sich ständig wandelnde Begegnung, bei der Geständnisse abgelegt und unangenehme Wahrheiten ans Licht kommen. Zudem muss die Tochter ihrer Mutter beim Drehen eines Science-Fiction-Films helfen, in dem diese eine Nebenrolle spielt. Dass die Hauptdarstellerin Amy Fabienne ähnlich ist und eine noch kompliziertere Mutter-Tochter-Beziehung lebt, sorgt für weiteren Konfliktstoff.

Familienbeziehungen, im normalen wie im speziellen Rahmen, stehen im Zentrum der Filme des Filmemachers Hirokazu Kore-eda. Auch in seinem ersten europäischen Film bleibt er diesem Thema treu. Getragen von den französischen Leinwandstars Catherine Deneuve und Juliette Binoche wird «La Vérité» zu einer vielschichtigen, intimen, bewegenden und humorvollen Geschichte über Wahrheit und erfundene Wahrheit, über Fluch und Segen der Lüge.

Buch, Regie, Schnitt: Hirokazu Kore-eda

Hirokazu Kore-eda: ein Grossmeister des Welt-Kinos

Um zu spüren, in welcher Tonlage «La Vérité» spielt, empfiehlt sich ein Blick in andere Werke des Meisters. Hirokazu Kore-eda, am 6. Juni 1962 in Tokio geboren, drehte seit 1987 gegen zwei Dutzend mehrfach ausgezeichnete Filme, unter anderen 2018 «Shoplifters», 2017 «The Third Murder», 2016 «After The Storm», 2015 «Our Little Sister», 2013 «Like Father, Like Son», 2009 «Air Doll» und 2008 «Still Walking».

Kore-eda ist dafür bekannt, seine Akteure brillieren zu lassen, was ihm bei Deneuve und Binoche wohl leichtgefallen ist. Vor allem «la grande dame» hatte Spass, ihr Selbstporträt zu überzeichnen, ihren Schwiegersohn und den Nachwuchsregisseur beim Dreh mit Verachtung zu strafen. Statt eines Plakats von «Belle de Jour», einem Film, in dem CD mitspielte, hängt bei ihr eines mit «Belle de Paris» an der Wand. Und es verwundert nicht, dass die Enkelin sofort glaubt, dass ihre Oma eine Hexe sei, die ihren Ex-Mann Pierre in die Schildkröte verwandelt hat, die im Garten herumkrabbelt; als dieser später mit Blättern im zerzausten Haar vor der Tür steht, fehlt von der Schildkröte jede Spur. Eine liebende Mutter, grosszügige Kollegin und treue Ehefrau sei sie gewesen, heisst es in den Memoiren. Doch jetzt, da sich die ganze Familie versammelt hat, lösen sich diese Behauptungen Stück für Stück im Nichts auf. Selbst die herrschaftliche Villa wird für Fabienne zur entlarvenden Metapher, denn das Gebäude mit dem prachtvollen Garten steht zwar mitten in Paris, doch zwischen der Metro und einem Gefängniskomplex.

Fabiennes Sekretär Luc und aktuellem Partner Pierre (v. l. im Hintergrund)

Lügen und leben lassen …

Bekanntlich liegt die Wahrheit im Auge des Betrachters: in Kore-edas neuem Film in einem komplizierten Beziehungsgeflecht und herausfordernden Spiel. Fantasie bildet die emotionale Umhüllung der Mutter-Tochter-Geschichte: Auf der ersten Ebene in den Gesprächen, auf der zweiten im Plot des SF-Films, in dem Fabienne eine 73-Jährige spielt, deren Mutter jünger ist als sie, weil diese im All nicht altert und nur alle sieben Jahre auf der Erde vorbeischaut. Obwohl «La Vérité» in Paris angesiedelt ist, lässt der Regisseur über weite Strecken das Melodrama in den Räumen von Fabiennes Anwesen spielen, nur am Anfang und Schluss von pariserischen Landschaften umrahmt, wie wir sie mit fernöstlichen aus anderen Filmen des Cineasten kennen.

Immer wenn die Konflikte an die Oberfläche drängen, wird um die titelgebende Wahrheit gerungen, die aber nicht so klar ist, wie es am Anfang scheint. Denn auch die eigenen Erinnerungen können trügen. Und Kore-eda fragt uns: «Was macht eine Familie zur Familie? Ist es die Wahrheit oder eine Lüge? Und du, hättest du die Wahl zwischen einer grausamen Wahrheit und einer süssen Lüge, wie würdest du dich entscheiden?»

Lumir mit Charlotte (Clémentine Grenier) und Hank (Ethan Hawke)

… und die Poesie geniessen

Auch der Amerikaner Hank liefert Hinweise zum Thema: im Spiel mit seiner Tochter und mit seinen Äusserungen über die Schauspielerei. Je abweisender sich die beiden Protagonistinnen über weite Strecken zeigen, desto grösser wird die Befriedigung bei ihrer langsamen Annäherung, was sich auch als sanfte Umdeutung der Wahrheit erweist. Dass es am Ende ein Happy End gibt, ist bei Kore-eda nicht zu viel verraten. Denn er ist einer der grossen Humanisten des aktuellen Welt-Kinos, dessen Glaube, Hoffnung und Liebe am Ende als starkes, wenn auch leicht verspieltes Fundament steht. Damit ist «La Vérité» mehr als eine Liebeserklärung an zwei Menschen im Clinch zwischen Wahrheit und Lüge, er ist gleichzeitig eine Liebeserklärung an die Schauspielkunst und das Kino.

Der Film lebt von der Magie der reinen Poesie, angereichert mit Selbst- und Lebenserfahrung, welche die Geschichte berührend und spannend macht. «La Vérité» geht auch über ein Familiendrama hinaus, in die Sphären der Kunst, hier japanische Mystik und französisches Schauspiel vereinend.

Titelbild: Fabienne (Catherine Deneuve) und Lumir (Juliette Binoche)

Regie: Hirokazu Kore-eda, Produktion: 2019, Länge: 107 min, Verleih: Cineworx

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