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Übersetzungen erweitern den Horizont

Zu Besuch bei Hartmut Fähndrich – Kenner der arabischen Kultur und erfahrener Übersetzer.

Wer sich für Literatur interessiert, dessen Lesehunger endet selten an den Landes- oder Sprachgrenzen. Bücher aus fremden Ländern oder Kulturen erschliessen sich uns jedoch nur durch Übersetzungen. Hartmut Fähndrichs jahrzehntelanger Tätigkeit verdanken wir eine Vielzahl von Übersetzungen aus dem arabischen Kulturraum. Seniorweb hat sich darüber mit ihm unterhalten.

Seniorweb: Nachrichten aus Bagdad, Kairo oder Beirut sind in letzter Zeit meist dramatisch, wenn nicht bedrückend, es geht um Attentate, Demonstrationen, Konflikte, die unlösbar bleiben. Wird das kulturelle Leben trotz der prekären politischen Lage in den arabischen Ländern immer noch gepflegt?

Hartmut Fähndrich: Ja, unbedingt. Das ist in Europa viel zu wenig bekannt. Viel Gegenwartsliteratur, nicht nur Frisch und Dürrenmatt oder Robert Walser, sondern auch Jonas Lüscher oder Patrick Süskind werden ins Arabische übersetzt – und selbstverständlich auch gelesen. Bei meinen Reisen haben mich meine Gesprächspartner schon einige Male durch ihre Kenntnisse von Büchern überrascht, die vor gar nicht so langer Zeit bei uns erschienen sind.

Besteht das Interesse auf Gegenseitigkeit? Welche Resonanz finden Romane aus dem arabischen Raum hier im deutschen Sprachgebiet?

Da ist das Interesse leider sehr begrenzt. Der deutsche Büchermarkt ist, was arabische Literatur betrifft, eine Wüste, verglichen mit dem angelsächsischen Sprachraum, aber auch Italien und Frankreich – eine bedauerliche Tatsache. Denn Literatur zu lesen ist der beste Zugang, ein Land und seine Menschen zu verstehen. Im Falle des arabischen Raums führt die Lektüre zu einem differenzierteren Blick auf jene Welt. Das ist sinnvoller, als nur den Koran zu lesen, wie oft propagiert wird.

Die Gesamtheit der Literatur zeigt uns vielmehr, wie die Menschen leben, worüber sie sich freuen, was ihnen Angst macht. Deshalb ist es nützlich, möglichst viele lesbare Bücher bekannt zu machen bzw. zu übersetzen, nicht nur Bestseller, sondern auch weniger beachtete «Juwelen».

Besteht Ihres Wissens nach bei den Literaten in Ägypten, im Irak oder in den Ländern Nordafrikas der Wunsch, auch in Europa gelesen zu werden?

Da die Arabische Welt unsere Nachbarkultur ist, sollte man deren kulturelle Äusserungen bei uns zur Kenntnis nehmen. Auch dort weiss man um diese Nachbarschaft. Man beruft sich gern auf das Mittelalter, als die arabische Kultur bis Spanien reichte und antikes Erbe weitergab. Daraus leiten einige Intellektuelle noch heute gewisse Erwartungen ab.

Hartmut Fähndrich. Foto: Ebba D. Drolshagen

Das Studium der arabischen Sprache und Literatur ist hier eher ein seltenes Fach. – Wieso haben Sie sich darauf eingelassen.

In Tübingen habe ich das humanistische Gymnasium besucht, also neben Latein und Griechisch auch Hebräisch als Freifach gelernt – morgens um 7 Uhr, (fügt Hartmut Fähndrich mit einem Schmunzeln hinzu).

Da ich Sprachen und Literatur immer gemocht habe, war ein Studium naheliegend. Hebräisch, die Sprache der Bibel, war wie ein Wegweiser zu den anderen semitischen Sprachen. Hebräisch war schliesslich immer noch mein 2. Prüfungsfach, aber seitdem habe ich fast alles vergessen und beschränke mich auf das Arabische.

Wird Arabisch überall verstanden und geschrieben?

Als gesprochene Sprache sind die arabischen Dialekte zwischen Marokko und den Golfstaaten so unterschiedlich wie Ostfriesisch und Oberwalliser Deutsch, die Hochsprache jedoch, die Literatursprache Arabisch ist überall die gleiche. Gewisse Autoren verwenden aber auch regionales Vokabular.

Nach welchen Kriterien wählen Sie Bücher für eine Übersetzung aus?

Bis kurz nach der Jahrtausendwende habe ich einem Verlag vorgeschlagen, was ich für übersetzenswert hielt. Seitdem suchen die Verleger selbst – im Internet! – nach Büchern, die sie herausgeben wollen. Aber das in höchst sparsamer Weise. Das führte dazu, dass etwa 2017 kein einziger Titel aus der arabischen Literatur übersetzt wurde. War es Gleichgültigkeit oder Ignoranz? Jedenfalls sind die literarischen Einblicke in die Arabische Welt, die der deutsche Buchmarkt bietet, höchst dürftig. Dabei gäbe es genügend Personen, die gern arabische Literatur übersetzen würden – trotz aller Schwierigkeiten, der sprachlichen und der finanziellen. Übersetzer sind alle mehr oder weniger «angefressen» von ihrer Arbeit. – Man muss diese Tätigkeit wirklich lieben, um unter den Marktbedingungen nicht aufzuhören.

Bei meiner Auswahl frage ich mich, in wie weit das Buch in unserer Kultur verstanden werden kann, d.h. es darf nicht zu sehr von lokalen Eigenheiten geprägt sein. Wesentlich ist selbstverständlich die Qualität des Schreibens, ebenso die Frage, ob die Botschaft des Buches verstanden wird und welche Rolle das Buch im Ursprungsland spielt. Über all das erkundige ich mich bei Fachleuten und bei „meinen“ Autoren, die ich mit wenigen Ausnahmen alle persönlich kenne. – Den Kontakt zwischen Autor und Übersetzer halte ich für unabdingbar.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie mit einer Übersetzung beginnen?

Normalerweise kenne ich das Buch schon. Wenn ich es durch eine Empfehlung in die Hand bekomme, mache ich mich über Buch und Autor kundig. Ob sich eine Übersetzung lohnt, merke ich oft schon nach fünfzig Seiten. Die Rohübersetzung, den ersten Schritt sozusagen, schreibe ich direkt in den Rechner. Danach wird alles ausgedruckt und das Korrigieren beginnt. Dann kommt der Moment, beim Autor nachzufragen, Sachfragen und Ausdrücke zu klären. Gerade um das passendste Wort zu finden, ist Hilfe oft unerlässlich.

Mit Ibrahim al-Koni, dem libyschen Schriftsteller, der viele Jahre in der Nähe von Thun lebte, sass ich oft tagelang zusammen und liess mir erklären, was er genau ausdrücken wollte. Seine Bücher und sein Stil sind stark von den Mythen und der Natur der Wüste geprägt. Jedes Wort hat in jeder Sprache seinen eigenen Bedeutungsbereich. Sprachliche Strukturen müssen neu geschaffen werden. Und all das erfordert sehr viel Zeit.

Nun kann aber auch die genaueste Übersetzung eine andere Stimmung vermitteln als das Original. Das konnte ich in Kairo einmal bei einer Lesung feststellen, als nach dem arabischen Original meine Übersetzung vorgelesen wurde. Auf Deutsch empfand ich es eher bedrückend, während es auf Arabisch für die Ägypter einen hoffnungsvollen Klang hatte – erstaunlich, nicht wahr!

Sie haben lange an der ETH Zürich unterrichtet. Welches waren dort Ihre Aufgaben?

Neben dem Sprachunterricht hatte ich jedes Semester eine Vorlesung für Hörerinnen und Hörer aller Fakultäten anzubieten, zu Themen aus der nahöstlichen Kulturgeschichte und Politik sowie zum Islam. In der Auswahl der Themen war ich frei. Es war eine sehr reizvolle Aufgabe – je nach Thema und Jahreszeit kamen mehr oder weniger Studierende.

Gibt es unter den vielen unterschiedlichen Schriftstellern einen, der Sie am meisten beeindruckt hat?

(Nach einem Moment des Nachdenkens) Eigentlich antworte ich darauf ungern. Aber sei’s: Ibrahim al-Koni. Er hat sich – manchmal etwas eklektisch – beim Schreiben in der berberischen, der arabischen und europäischen Geistesgeschichte bedient und damit Romane über die menschliche Existenz verfasst: ein Wandern durch die Wüste mit dem Horizont als Ziel, als unerreichbares Ziel. Es ist das Leben der Beduinen. Bewegung ist für Ibrahim al-Koni die Essenz des Lebens, darum ist für ihn die Ruhe in der Oase eine eigentliche Katastrophe, das Ende des wahren Menschseins. Der Autor schöpft dabei auch aus den mystischen Traditionen der islamischen und der christlichen Welt. Für mich ist Ibrahim al-Koni der philosophischste aller arabischen Autoren.

Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Fähndrich, ist die Wüste ein Symbol dafür, dass sich der Mensch im Wandern, in der Bewegung verwirklicht. In der Oase sitzt er fest, bleibt im Müssiggang kleben. – Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.

Webseite von Hartmut Fähndrich
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Titelbild: Bücherwand Foto: Ahmad Ardity / pixabay.com

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