StartseiteMagazinGesellschaft„Witwenschütteln“ bewegt auch Journalisten

„Witwenschütteln“ bewegt auch Journalisten

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Seit mehr als einem halben Jahrhundert schreibt Peter Steiger für Zeitungen. Dass Gerichtsfälle nicht nur Sitzleder, sondern auch eine dicke Haut erfordern berichtet er in diesem Teil der Serie.

Gerichtsfälle sind über weite Strecken langweilig. Besonders wenn der Angeschuldigte kein Deutsch versteht. Die Richterin fragt. Der Dolmetscher übersetzt. Der Angeschuldigte antwortet. Die Dolmetscherin übersetzt. Der Gerichtsschreiber protokolliert. Die Dolmetscherin verliest. Nächste Frage, gleiches Prozedere.

Eben: langweilig. Aber dafür bekommt man Lebensgeschichten mit, die einem mal den Magen umdrehen, mal die Tränen in die Augen treiben. Zum Beispiel: Die beiden Männer haben in den Neunzigerjahren Seite an Seite im Balkankrieg gekämpft. Der eine hat dem anderen gar das Leben gerettet. Sie flüchten in die Schweiz. Die beiden Freunde verlieben sich in die gleiche Frau, die ebenfalls aus Südosteuropa kommt.

Treppe zum Schicksalsort. Im Berner Amthaus entscheidet das Regionalgericht über den künftigen Lebensweg. Foto Peter Steiger

Sie kann sich nicht entscheiden, vielleicht liebt sie auch beide. Das Trio will sich aussprechen und trifft sich an einem idyllischen Seeufer in der Nähe von Bern. Die Begegnung läuft aus dem Ruder. Einer der beiden Männer zückt sein Messer und stösst es dem anderen mehrfach in den Unterleib. Der Mann stirbt, den Kopf auf dem Schoss der Frau. Die Gerichtspräsidentin verurteilte den Täter wegen Totschlag zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe.

Die traurige Geschichte hat eine klitzekleine Pointe. Die Frau war als Zeugin geladen. Ich erwartete eine Balkanschönheit. Es erschien eine unscheinbare Person, die akzentfrei Bündner Dialekt sprach.

Das Opfer, die Mutter, das Schulheft

Unglücksfälle und Verbrechen faszinieren. Wenn die Dosis zu hoch ausfällt, wird man allerdings zynisch. Unerfreulich ist oft auch die Recherche. „Witwen schütteln“, so der Journalisten-Jargon, erfordert eine dicke Haut. Der flappsige Ausdruck sagt alles: Möglichst rasch, möglichst viele, möglichst direkt Betroffene zum Reden zu bewegen.

Natürlich wusste ich, dass ich meist unerwünscht war, wenn ich anrief oder klingelte. Ich akzeptierte und verstand die oft barschen Reaktionen. Aber wie hatte die Berner Langstreckenläuferin Anita Weyermann das in den Neunzigerjahren so treffend formuliert: „Gring ache und seckle“. Übersetzt auf den Job: Augen zu und durch. Belastender als die Abweisungen war das Gegenteil. Zwei, drei Mal habe ich erlebt, dass mir Angehörige oder Freunde von Opfern so viel Intimes anvertrauten, dass ich unruhige Nächte hatte.

Als in einem Berner Vorort Ende der Neunzigerjahre eine junge Frau vergewaltigt und ermordet wurde, erschütterte dies das ganze Dorf. Ich besuchte die Mutter des Opfers vor und nach dem Prozess. Als ich sie ein Jahr später nochmals interviewte, schenkte sie mir ein Schulheft ihrer Tochter. Ich ringe heute noch um Fassung, wenn ich daran denke.

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