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Der Stadtsegen als Hoffnungsgeschichte  

Grossmünster-Pfr. Christoph Sigrist erteilt den Toggenburger Alpsegen vom Karlsturm aus mit dem Sprech-Trichter von Roland Bischof, Stein SG

Ungewohnte Töne in der Zürcher Altstadt. Am letzten Freitag, pünktlich um 18 Uhr, sprach Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist zum ersten Mal den Zürcher Stadtsegen in alle vier Himmelrichtungen. Er rief ihn durch einen Milchtrichter, wie ihn die Sennen in den Alpen auch nutzen. Diesen Freitag um 18 Uhr singt Pfarrer Sigrist den Alpsegen wieder. 

Seniorweb fragte Christoph Sigrist nach der Botschaft, die er auf diese Weise verbreiten will.

Der Alpsegen ist eine typisch ländliche Tradition. Passt er in die Stadt?

Christoph Sigrist: Das fundamentale Bedürfnis der Menschen auf dem Land und in der Stadt, zwischen Urangst und Urvertrauen gehalten zu sein, ist dasselbe. Die Sehnsucht, auch in schwierigen Zeiten gesehen, gehört zu werden, ist dasselbe. Kirchen sind auf dem Land und in der Stadt Gedächtnis und Gewissen dafür, dass immer noch einer hört und sieht, wenn die Welt um einen herum verstummt. Der Segen Gottes ist weder an die Alp in den Bergen noch an die Allmend in der Stadt gebunden, sondern an Gott selber. Ich erlebe schon seit Jahrzehnten, dass die ländlichen Traditionen wieder vermehrt in urbanen Gebieten gelebt werden. Dies kommt wohl auch davon, dass die Stadt wieder vermehrt an den Wochenenden und in den Ferien aufs Land zieht. Stadt und Land verschmelzen zu einem Grundklang von Beheimatung. Diese Stimmung von Beheimatung in Zeiten, wo der Mensch gezwungenermassen daheim hausen muss, löst auch der aus dem Alpsegen gewonnene Stadtsegen aus. Der Alpsegen ist eine weitere Hoffnungsgeschichte, für die jeder Kirchenraum und Kirchturm seit Jahrtausenden steht.

Ausserdem ist der Alpsegen eine katholische Tradition. Lässt er sich einfach so aufs evangelisch-reformierte Grossmünster übertragen?

Gerade das Grossmünster steht ja für die Transformation einer altkirchlich, katholischen zur reformierten Tradition. Vor 500 Jahren vollzog dies der Reformator Ulrich Zwingli mit seinen Freunden und dem Nachfolger von ihm, Heinrich Bullinger. Zwingli konnte mehr als 10 Instrumente spielen, die man bis heute im Alpstein kennt, er konnte ausgezeichnet singen, war ein Künstler. Dass er keine Musik im Gottesdienst integrierte, hat nichts damit zu tun, dass er nicht gerne sang, sondern schlicht damit, dass die von ihm gewählte Ordnung des Gottesdienstes keinen Gemeindegesang vorsah. Er betonte immer wieder, dass seine biografische Prägung, Bauernsohn aus dem Toggenburg zu sein, sein Denken und Handeln auch in der Stadt prägte. Ich selber war 7 Jahre in Stein im Toggenburg Pfarrer in der Nähe von Wildhaus, dem Geburtsort von Zwingli. Ich lernte den Alpsegen kennen, der bis heute von den Sennen und Bauern gesungen wird. Er wird von der reformierten und katholischen Bevölkerung sehr geschätzt. Ich übertrug den Alpsegen aus dem Obertoggenburg in dreifacher Weise in den Stadtsegen von Zürich: Erstens: ich ersetzte die Anrufung „Ave Maria» durch „Bhüeti Gott»; zweitens: ich ersetzte die Anrufung der Heiligen durch die Integration von Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen, die in der Stadt leben, und drittens: ich wählte die Stille und die Anhöhe als Brückenschlag zwischen Alp- und Stadtsegen: aus der Stille des Abends erklingt der Alpsegen, aus der Stille der Stadt erklingt der Stadtsegen; vom exponierten Ort, auf dem Stein stehend mit Blick ins ganze Tal, wird der Alpsegen gesungen, vom exponierten Ort,  auf der Plattform des Turmes mit Blick auf die ganze Stadt wird der Stadtsegen gesungen.

Grossmünster Pfarrer Christoph Sigrist erteilt vom Karlsturm aus den Toggenburger Alpsegen. Fotos: Urs Bosshard

Was gab Ihnen den Anstoss zu dieser Aktion?

Das wichtigste Instrument in einer Arbeit ist – vielleicht überraschend für die Lesenden – das Zuhören und Nachdenken, was Gott und andere vorgedacht haben. Aus dem Hören erfolgt dann das Reden und Predigen, das Unterrichten und das Helfen. Als innerhalb kürzester Zeit aus unterschiedlichen Milieus mir letzte Woche Menschen ihre Sehnsucht zugetragen haben, in dieser stillen Stadt sollte doch jetzt vom Grossmünsterturm ein mutmachendes und tröstendes Wort oder ein Gesang zu hören sein, machte ich mich daran nachzudenken, wie ich da helfen könnte. Das ist mein inneres Feuer, das ich von meinem Vater geerbt habe, meine Berufung als Pfarrer, diakonisch zu leben, helfend tätig zu sein für diejenigen, die mir Nächste werden.

Wieso gerade am Freitagabend, das ist doch der Tag fürs muslimische Gebet? Wieso nicht am Samstagabend, dem Vorabend zum christlichen Sonntag?

Der Freitagabend ist zwar – und das ist richtig – der Tag des Freitagsgebets der muslimischen Schwestern und Brüder in der Stadt. Der Freitagabend ist jedoch für die Identität der Stadt weitaus mehr der Beginn des Wochenendes. Dies erlebt man freitagnachts im Hauptbahnhof Zürich, der sich zum Jugendhaus der Schweiz verwandelt. Der Stadtsegen über eine plural gewordene Stadt eröffnet das Wochenende und orientiert sich nicht am religiös codierten Tag, auch wenn sich beide dann überlagern. Zudem trägt der Grossmünsterturm schon seit Jahrzehnten das Gedächtnis für die Stadt, dass an jedem Tag vom Turm gesungen wird. Die Sängerin La Lupa singt jeweils um den Menschenrechtstag vom 10. Dezember vom Turm. Und schliesslich wird in der nächsten Woche, der Karwoche, der Segen von Montag- bis Donnerstagabend erklingen, an Karfreitag nicht, jedoch dann an Karsamstag und Ostern.

Am Freitag wird man Sie wieder weit herum hören. Waren Sie zufrieden mit dem ersten Mal, werden Sie etwas ändern?

Es geht nicht nur beim Stadtsegen, sondern in meiner schon dreissigjährigen Arbeit als Pfarrer nicht darum, ob ich zufrieden bin. Sondern es geht um die Diakonie, das heisst um den kirchlichen Auftrag gegenüber einer Gesellschaft, Menschen, die verängstigt, überfordert und in schwierigen Zeiten leben, helfend zu begleiten, nahe zu sein im Wissen dafür, dass Gott auch dann nahe ist, wenn man sich gottvergessen alleine fühlt. Diese tröstende und behütende Nähe Gottes wurde weitherum gehört, deshalb gilt es, nichts am Segen Gottes zu ändern, weder gestern noch heute noch morgen.

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1 Kommentar

  1. Ein Pfarrer mit innovativen Ideen in der Nachfolge Zwinglis, der von den Gläubigen und auch Nicht-Gläubigen ernst genommen wird. Danke für das Interview.

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