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Kunst in Quarantäne

Alle Museen sind geschlossen, auch das Kunstmuseum St. Gallen, wo die Ausstellung «Metamorphosis Overdrive» einige Rätsel aufgibt. Sie untersucht Veränderungen und Verwandlungen alltäglicher Gegenstände. Eine Führung im Haus ist undenkbar, aber es geht auch per Videokonferenz.

Die Ausstellung vereint Werke von acht internationalen Kunstschaffenden, welche durch eine oft groteske Verwandlung von Gegenständen eigenartig vertraute Arrangements entstehen lassen. Die Veränderung des Kontextes lässt vertraute Dinge zu visionären Objekten werden. Auf der Homepage des Museums gibt es dazu Bilder, Texte und ein Video mit dem Kurator Lorenzo Benedetti sowie zwei der Künstler, aber nachfragen geht zu Pandemie-Zeiten natürlich nicht.

Seniorweb-Autor Justin Koller und Remigius Wagner Informatik-Experte und Leiter des Ostschweizer Zweigs der Organisation Integrale Politik IP Schweiz, haben eine Online-Führung organisiert und sind auf reges Interesse gestossen. Das Meeting fand vor gut zehn Tagen um 19 Uhr statt und dauerte rund anderthalb Stunden.

Seniorweb: Justin Koller, wie kam diese Führung während des Lockdowns, oder besser, diese Videokonferenz zustande?

Justin Koller: Ich besuchte die Ausstellung am Tag vor der Museumsschliessung und schrieb eine Besprechung, aber eine Publikation machte keinen Sinn. Im Zeichen des Corona-Virus erhalten die Werke überraschend eine zusätzliche Bedeutung. Der geschlossene Raum des Museums mit einzelnen Ausstellungsobjekten, die wie in Quarantäne verpackt sind, verstärken den Bedeutungskontext erst recht. Mein Freund Remigius Wagner unterstützte dieses Projekt mit Rat und Tat.

Eine tiefere Reflektion über die Ausstellung passt gut zur aktuellen Zeit: Inmitten von selbstverständlichem, konkretem Tun im Alltag gönnen wir uns einen Moment Stille, nehmen Abstand vom lebendigen Treiben um uns und in uns, werden leer, beobachten, fühlen, verbinden uns mit einer inneren und höheren Kraft, lauschen auf die feinen Töne und Impulse, reflektieren und bringen etwas in neuem Licht in unseren Alltag und in die Gesellschaft.

Vor der Videokonferenz verschickten Sie den angemeldeten Teilnehmern und Teilnehmerinnen Fotos der zu besprechenden Bilder.

Wir setzten achtsame, konstruktive Dialogbereitschaft gemäss den Zielen der Integralen Politik voraus und wurden nicht enttäuscht. Acht Interessierte hatten sich angemeldet, alle hatten die Software Zoom auf ihrem Computer oder Handy, waren also auch optisch verbunden.

Eine solche Begegnung hat einen geregelten Ablauf. Das bewährte sich für unser Projekt. Zunächst stellten sich die Teilnehmenden vor, nebst Bekannten aus der Region haben sich auch eine Frau aus Deutschland und ein Ehepaar aus Wien beteiligt. Ein Moment der Stille nimmt Spannungen weg und stimmt auf das Thema ein. Danach stellte ich einige der Werke vor.  

Camille Blatrix: Wher, 2016: Ein überdimensionierter Staubsaugroboter aus einer Isolierstation?

In der Phantasiewelt von Camille Blatrix (*1984, Paris) ist das Design so gediegen und glatt wie die Funktion obskur. Nach dem Künstler erinnert Wher an einen Wal. Das Gefährt scheint selbständig navigieren zu können, aber es bleibt gefangen zwischen zwei Betonpfeilern.

Camille Blatrix: Fra Francesca, 2019: Der Namen erleichtert die Einordnung kaum.

Erinnert die Skulptur Fra Francesca an einen eleganten Bug aus kostbarem Holz oder an ein geheimes Tor? Man fragt sich, ob das Objekt frei von einem Verwendungszweck einfach als etwas Ästhetisches eine Daseinsberechtigung habe.

Simon Dybbroe Møller: Things and the Thoughts That Think Them, 2011

Simon Dybbroe Møller (*1976, Aarhus) zeigt ein buntes Arrangement an Alltagsgegenständen aufgestellt in Plexiglasboxen. Dieses Werk ist ein Herzstück der Ausstellung und dient als Batterie, nicht technisch aber emotional gedacht, mit seinem philosophischen Titel Things and the Thoughts That Think Them. Die Verwandlung durch die Plexiglas-Verkleidung isoliert die Objekte vom Alltagsgebrauch und transformiert sie. Darin könnte man Konsumkritik sehen. In der aktuellen Situation erhält die Szene eine neue Bedeutung: Die Dinge sind wie wir unter Quarantäne.

Simon Dybbroe Møller: Video, 2020, ist eine Arbeit, die eigens für die Ausstellung realisiert wurde. Foto: Sebastian Stadler

Auch im zweiten Objekt, hier schlicht Video genannt, überhöht Simon Dybbroe Møller Objekte in simpler aber stupender Art. Eine Bronzeskulptur von Hermann Haller von 1945 aus der Sammlung des Kunstmuseums wird mit einer Plastiktüte und einem Magnetband behängt. Die Stehkraft der Skulptur steht dem Leichten, dem Luftigen und dem Wegwerfcharakter der beiden anderen Materialien entgegen. Sie werden durch den Luftstrom aus dem Ventilator bewegt.

Yngve Holen: Hater Taillight, 2016 Rücklichter als Maske

In die Augen springt das Objekt Hater Taillight von Yngve Holen (*1979, Braunschweig): die Rücklichter eines Autos, aus ihrer Funktion herausgelöst, sind zu einem Readymade transformiert: Schon von weither verfolgt einem diese mythologisch überhöhte Maske.

 

Blick in die Ausstellung. Links: Simon Dybbroe Møllers Rose Painting. Foto: Sebastian Stadler

Dingen aus der Industrie- und Handelswelt versucht der Künstler eine archaische Ikonographie zuzuschreiben. Mit Rose Painting zeigt er den Ausschnitt einer Autofelge, verfremdet durch Vergrösserung und Materialwahl. Ein technoider Gegenstand – weit hergeholt – und elegant transformiert.

Sie haben hier eine Auswahl der Installationen auch für seniorweb beschrieben. Wurde bei der «Führung» diskutiert, gab es Präferenzen?

Die Objekte von Simon Dybbroe Møller: «Die Dinge und was sie übereinander denken» löste Gedanken über unsere Warenwelt aus. Und, dass sie künstlich isoliert sind, regte an. «Video» beeindruckte als einfache Installation mit Tiefgang: Komplexe und durchorganisierte Gewissheiten und Rituale verändern sich, werden von aussen verändert, genau da stehen wir ja, hielt die Gruppe fest.

Was war Ihnen bei der Vermittlung wichtig?

Weder Kunsthistoriker noch Tiefenpsychologe habe ich die Objekte, von denen die Teilnehmenden Abbildungen zur Verfügung hatten, einfach beschrieben ohne zu werten oder zu interpretieren. Schön war dann, dass sich alle bei der weiteren Bildanalyse beteiligten und sich einbrachten.

Wir gingen von den Kunstwerken aus, fanden dann gemeinsam ein übergeordnetes Thema: Sein statt Haben. Kunst betrachten als Themeneinstieg für einen Diskurs im Rahmen der Integralen Politik bereichert. Die Aussagen innerhalb des geregelten Ablaufs eines solchen Meetings sind reflektierter als das, was nach einer Gruppenführung im Museum ausgetauscht wird. Nur hoffe ich doch, dass das Museum wieder öffnet, bevor diese Schau abgebaut wird.

Mythologie ist Vergangenheit – Technologie ist Zukunft: In dieser Symbiose bewegen sich die Realisationen von Metamorphosis Overdrive. Als „Metamorphose“ wird seit der Antike der Wandel der Gestalt oder Form verstanden, und «Overdrive» kennt man als Schongang im Autogetriebe oder die Veränderung des Sounds durch Verlangsamung der Abspiel-Geschwindigkeit in der Musikszene.

Bis 6. September
Beitragsbild und Fotos: Justin Koller
Hier finden Sie Informationen zur Ausstellung Metamorphosis Overdrive im Kunstmuseum St. Gallen.

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