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Alltagsszenen aus Holland

Das Kunst Museum Winterthur präsentiert fünfzig Radierungen des holländischen Künstlers Adriaen van Ostade. Anfänglich als derber Bauernmaler bekannt, wandte er sich unter Rembrandts Einfluss der Radierung zu und erweiterte die Motive mit differenzierten intimen Alltagsszenen.

Familienbilder bekommen aktuell durch den Lockdown einen neuen Stellenwert. Vater, Mutter und Kinder im friedlichen Zusammensein, ein Thema, das biedermeierlich anmutet. Der aus Haarlem stammende Adriaen van Ostade (1610-1685) war der erste Künstler, der das Motiv des Familienbildes ohne religiösen Kontext als bildwürdig in seine Kunst aufnahm und sogar dem Vater eine gefühlvolle, aktive Rolle zugestand. Als vielseitiger Peintre-Graveur schuf er ein Werk, in dem das niederländische Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Zeit für uns heute lebendig wird.

Der Marktplatz von Haarlem, Umkreis Gerrit Berckheyde (1638-1698), um 1750. Privatbesitz. Foto: rv.

Haarlem erlebte nach dem Abzug der Spanier im Jahr 1578 einen grossen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung und avancierte zu einem liberalen Zentrum der Niederlande, das die unterschiedlichsten Talente anzog. Dank wachsendem Wohlstand konnte sich das aufstrebende Bürgertum Kunst und andere Luxusgüter leisten. Nicht mehr die Kirche und die Aristokratie bestimmten die Produktion, sondern das Bürgertum, welches mit calvinistischen Tugenden und Bürgermoral die Entwicklung der bäuerlichen Genremalerei förderte. Sie erhielt, dank der Neuübersetzung antiker ländlicher Dichtung von Horaz und Vergil, eine zunehmend positive Einschätzung, zumal auch wohlhabende Regenten- und Kaufmannsfamilien sich Sommerresidenzen fernab vom städtischen Leben leisteten.

Der Raucher am Fenster, Radierung. Stiftung Oskar Reinhart. Foto: rv.

Als Wegbereiter des Bauerngenres gilt der flämische Maler Pieter Bruegel d.Ä. (1526/1530-1569), der durch seine Darstellung der Bauern und ihrer Feste ikonographische Anregung lieferte, die sich über die Druckgrafik verbreitete. In dieser Tradition stand auch der aus Flandern stammende Adriaen Brouwer (1610-1638), der mit Adriaen van Ostade in Haarlem in der Werkstatt von Frans Hals arbeitete. Der junge Ostade war anfänglich von den deftigen Bauerndarstellungen seines Malerfreundes Brouwer stark beeinflusst.

Unter dem Eindruck Rembrandt van Rijns (1606/1607-1669) wandelte sich Ostades Stil Ende der 1640er Jahre grundlegend. Er wandte sich erstmals der Radierkunst zu und entwickelte eine neue, eigene Sichtweise auf das Landleben. Statt ausgelassener Trinkgelage mit spöttisch mahnendem Blick auf die derbe Gesellschaft begann er intime Alltagsszenen darzustellen und schilderte die Freuden und zwischenmenschlichen Beziehungen der einfachen Bevölkerung mit Empathie und feinem Humor.

Der Leiermann, 1647, Radierung. © Kunst Museum Winterthur, Stiftung Oskar Reinhart.

Ostades Kirmes- und Wirtshausbilder stehen in der Tradition des Bauerngenres, aber nicht Ausschweifung und Leichtsinn, sondern die Zufriedenheit im Kleinen und die Freude an der Geselligkeit stehen im Vordergrund. Zur Unterhaltung trugen auch Wandermusikanten bei, die auf Jahrmärkten auftraten und von Haus zu Haus zogen. Solche «Türszenen» sind von Rembrandts Radierungen der 1630er Jahre inspiriert. Die fahrenden, oft blinden Musiker, gehörten zu den Aussenseitern der Gesellschaft und wurden gerne als Bettler dargestellt. Ostade betonte in seinen Darstellungen jedoch nicht den ärmlichen Charakter der Wandermusiker, sondern das Vergnügen des Publikums an der musikalischen Unterhaltung.

Eine eigenständige Sichtweise entwickelt Ostade um 1647 in seinen Interieurs mit Familien. Während Rembrandt das Thema noch als Heilige Familie darstellt, erscheint es bei Ostade als profane Familienszene im ärmlichen Milieu. Er zeigt ein liebevolles Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern. Bemerkenswert ist die ungewohnte Rolle des Vaters, der als Teil der häuslich-weiblichen Domäne aktiv und mitfühlend einbezogen ist. In der Radierung «Der Familienvater» füttert er das Kleinkind liebevoll auf seinem Schoss unter dem beobachtenden Blick der Mutter, die am Feuer der Kochstelle hantiert. Der Bruder im Hintergrund, der seinen Brei auf einem niedrigen Hocker isst, schaut zu. Der Künstler legt den Fokus auf das Kleinkind, zudem verschafft er uns einen Einblick in die Raumausstattung, wo neben der Kochstelle mit dem Kessel über dem Feuer im Hintergrund auch das Familienbett zu sehen ist.

Der Familienvater, 1648, Radierung. © Kunst Museum Winterthur, Stiftung Oskar Reinhart.

In seinen Darstellungen geht es Ostade nicht um ein umfassendes Abbild des bäuerlichen Lebens, ebenso wenig zeigt er die harte Alltagsrealität, die schwere Arbeit auf dem Feld oder Elend und Not, vielmehr sind es die kleinen Freuden eines bescheidenen Daseins, das gesellige und friedliche Zusammenleben der einfachen Leute, wie die Kuratorin Andrea Lutz festhält. Dabei wird auch die Umgebung miteinbezogen. Die Garn spinnende Bäuerin vor ihrer Hütte ist in ein Gespräch vertieft, der Bäckermeister bläst von der Backstube aus mit dem Horn, um den Dorfbewohnern zu verkünden, dass das frischgebackene Brot bereit ist, der Brillenhändler hält unter der Tür seine Ware feil, der Schuster in einer engen niedrigen Hütte unterhält sich bei der Arbeit mit einem Kunden. Es sind nicht individuelle Porträts, die Ostade wiedergibt, sondern Charakterfiguren als Typus des Handwerkers, eingebettet im detailliert gestalteten Setting der Hauptfiguren. So können wir uns auch heute ein lebhaftes Bild jener Zeit machen.

Der Schuflicker, 1671, Radierung. Geschenk der Stadt Winterthur aus dem Legat David Eduard Steiner, 1875. Foto: rv.

Bis 8.11.2020
Ausstellung «Adriaen van Ostade: The Simple Life» im Kunst Museum Winterthur. Reinhart am Stadtgarten, mehr hier

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