StartseiteMagazinKulturEs war mehr als Schall und Rauch

Es war mehr als Schall und Rauch

Die Ausstellung zu den wilden 20ern im Zürcher Kunsthaus breitet, dargestellt in Kunst und Design, das ganze Leben eines Jahrzehnts aus, das statt in eine bessere Zukunft zu führen gleich ins nächste Desaster taumelte.

Was hätten wir diesen Frühsommer genussvoll die wilden Zwanziger gefeiert, verrückt Charleston getanzt, Performances geschaut, Kunst betrachtet und Reden zum Aufbruch in neue Zeiten gehört, wäre uns nicht ein Virus in die Quere gekommen. Die allerletzten Zürcher Festspiele hatten die kreative, politisch prekäre und künstlerisch reiche Ära nach dem ersten Weltkrieg und der Grippepandemie von 1918 für die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts mit fulminanten Ideen aufgegleist und am Ende fast ohne reales Publikum als Online-Festival abspulen müssen.

Ausstellungsansicht: Wilde Jahre wilde Stilvielfalt. Foto © Franca Candrian, Kunsthaus Zürich

Wenigstens bleibt uns die Kunstausstellung Schall und Rauch. Die wilden 20er zu den Festspielen. Obwohl hilfreich in sechs Stationen aufgeteilt, kann man sich locker verlieren und verirren, denn die Schubkraft jener Zeit war in jeder Beziehung rasant. Neben den bekannten Architektur- und Designschulen, allen voran dem Bauhaus, sowie den Entwicklungen in allen Künsten vom wilden Ausdruckstanz bis zum streng formalen Konstruktivismus wird auch die Nachkriegsdepression, der Wirtschaftsboom bis zur Krise und die Freizeit- und Party-Industrie des überbordenden Jahrzehnts gezeigt. Dieser visionäre Aufbruch fand vor allem in den grossen europäischen Metropolen seinen Ausdruck.

Thomas Ruff, r.phg.s.03_l, 2014,C-Print, Mai 36 Galerie, Zurich © 2020 ProLitteris, Zurich

Parallelen zu heute, zu den eben beginnenden, jedoch mit einer Pandemie ausgebremsten neuen Zwanziger Jahren, sind mitgemeint. Deshalb haben zeitgenössische Künstlerinnen, Tänzer und Filmerinnen ihren Platz in der von Cathérine Hug kuratierten Ausstellung bekommen.

War es damals die industrielle Revolution mit Fliessbandarbeit und geregelter Freizeit sowie dem Innovationsschub durch das Automobil, ist es heute die Digitalisierung und die Forschung in Biologie und zum Klima. Und damals wie heute befasst sich die Gesellschaft intensiv mit einem anderen Rollenverständnis von Männern und Frauen. Aber folgen wir Hugs Stationen, die den Fokus auf sechs Themen jenes verrückten und schnellen Jahrzehnts legen.

Abschied vom Kriegstrauma: Kriegsversehrte waren in den Städten unübersehbar, die Bevölkerung nagte am Hungertuch, aber die Lebenslust prägte die urbane Gesellschaft und beflügelte die Kunst, neue Visionen zu suchen. Nach dem Krieg wurde der Dadaismus von Zürich nach Berlin exportiert, surrealistische und abstrakte Konzepte wurden entwickelt. Gleich beim Eingang zur Ausstellung empfängt einen der Film Ballet mécanique, den Fernand Léger 1924 drehte, eine verstörende Mixtur von Maschinen und Zahnrädern und den sinnlichen Lippen von Kiki de Montparnasse. In einem Nebenraum mit Warnschild läuft Kader Attias Diaschau über zusammengenähte Objekte – darunter verstörende Bilder von Kriegsversehrten.

Hannah Höch: Die Journalisten. 1925. Foto: Kai-Annett Becker/Berlinische Galerie, © 2020 ProLitteris, Zurich

Neue Rollen, neue Bilder: Das klassische Familienbild wird aufgebrochen, Frauen hatten schon während ihre Männer an Fronten kämpften, viele Bereiche des öffentlichen Lebens übernommen, Frauen werden sichtbar, dürfen allein entscheiden und auch rauchen. Das allgemeine Wahlrecht und die Demokratie werden grundsätzlich anerkannt. Otto Dix, Georg Grosz, Karl Hubbuch zeigen Grossstadtmenschen. Collagen von Hannah Höch, Fotografie von Man Ray, Malerei von Tamara Lempicka oder Christian Schad zeigen diese Gesellschaft – mitunter auch mit etwas Bösartigkeit.

Die Revolution der Mode: Korsett und Vatermörder sind weg, Modezeichnungen stellen eine urbane, selbständige Frau mit Bubikopf, Schwanenhals und langen Beinen dar, die Taille liegt tief, der Saum beim Knie. Geeignet für die Fahrt im Automobil, oder notfalls auch in der Strassenbahn, geeignet aber auch für tanzwütige und bewegungssüchtige Exzesse. Stoffe aus der Zürcher Seidenindustrie, die schon damals globalisiert produzierte, und Figurinen mit eleganten Kleidern machen die Mode erfahrbar. Über Designstrategien mit Seide und Kunstseide schreibt im Katalog der Historiker Alexis Schwarzenbach.

Arbeit und Freizeit: Die Arbeit wird dank gewerkschaftlichem Druck normalisiert auf den Achtstundentag. Dabei herrscht Arbeitsteilung nicht nur am Fliessband, beispielsweise bei der Produktion des Automobils, der Ikone jenes Jahrzehnts und Statussymbol bis heute. s

Ausstellungsansicht: Damals erfand Coco Chanel das Kleine Schwarze. Foto © Franca Candrian, Kunsthaus

Walter Ruttmanns Film Berlin – Die Sinfonie der Grosstadt von 1927 ist die absolute Fassung einer hektischen Zeit mit riesigen Menschenmassen, Verkehrsströmen und Arbeitswelten jenes Jahrzehnts, das wenig später im Gleichschritt Richtung Krieg marschierte. Den Essay Das Kaleidoskop der 1920er Jahre im Katalog hat der emeritierte Geschichtsprofessor Jakob Tanner verfasst.

László Moholy-Nagy, LIS, 1922 Kunsthaus Zürich

Die automatisierte Produktion machte den Konsum erschwinglicher, Architektur und Design brachten normierte Häuser oder auch Küchen hervor, es wurden Möbel – in der Ausstellung stehen beispielhaft Stühle und Sessel – für die serielle Produktion entworfen. Le Corbusier ist mit mehreren Werken vertreten, dem Bauhaus begegnet man mannigfach beim Gang durch die Ausstellung.

Neue Sehgewohnheiten: Abstrakte Malerei, sachlich-figürliche und konstruktivistische Kunst, sowie der technische Fortschritt von Medien wie Film, Foto oder Rundfunk lösen bei den Massen neue Seh- und Hörgewohnheiten aus. Die Fotografie entwickelt sich vom Ablichten zur konzeptuellen Kunst. Als Vertreter der abstrakten Malerei steht ein Highlight der Sammlung prominent im Mittelpunkt: Wassili Kandinskys Schwarzer Fleck von 1921, flankiert von konstruktivistischen Malereien von Xanti Schawinsky, dessen Bilder vielen unbekannt sind. Auf Entdeckungsreise zu gehen lohnt sich auch für alle, die Kunst auf Papier schätzen, damals war das Medium billiger als Leinwand und Farbe.

Neue Körperempfindungen: Ausdruckstanz, Jazzmusik und Freikörperkultur waren schon vor dem Grossen Krieg aus dem Künstleratelier in die Öffentlichkeit gelangt; in den Zwanziger Jahren wurde der sexualisierte Körper in freier Bewegung und im Tanz erst recht zentral in der allgemeinen Gier nach Leben. Nächtelang wurde getanzt, mit Alkohol und Drogen wurden der mühsame Alltag fortgespült, Freikörperkultur wurde gepflegt und die Sexualität war in Theorie und Praxis wichtig.

 

Ikone jener vergnügungssüchtigen und zugleich emanzipierten Gesellschaft war Josephine Baker, deren Ausdruckstanz dank Virtuosität, Erotik und ihrem immer distanzierten Humor die Massen in seinen Bann zog. Und wenn es damals ein It-Girl gab, war es gewiss die Marchesa Luisa Casati. Den alten Filmen von Bakers Bananentänzen oder auch Valeska Gerts verrückten Performances werden aktuelle Videos von Ausdruckstänzern beigesellt. Die überhitzte Stimmung der Szene findet sich als wunderbares Destillat in den Bildern von Marianne (My) Ullmann, vor allem in Apokalypse von 1926 wieder.

Marianne (My) Ullmann, Bescheiden, 1925. Universität für angewandte KunstWien, Kunstsammlung und Archiv © Nachlass Marianne (My) Ullmann

Der Titel Schall und Rauch ist bei Max Reinhard abgekupfert, steht jedoch auch dafür, dass dieses rasende und verrückte Jahrzehnt Anfang der 30er Jahre für lange Zeit fast spurlos ausgelöscht war. Die Begleitpublikation ist mehr als ein Katalog der Bilder und Objekte, die Texte zur Zeit ergänzen die Schau, die nächstes Jahr im Guggenheim Museum Bilbao Station machen wird, umfassend.

Beitragsbild: Christian Schad, Maika, 1929. (Ausschnitt) Privatsammlung © Christian Schad Stiftung Aschaffenburg/2020 ProLitteris, Zurich

„Schall und Rauch“ läuft bis 11. Oktober
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