StartseiteMagazinKulturCorona, von der Belletristik beleuchtet - Teil 2

Corona, von der Belletristik beleuchtet – Teil 2

Angesichts der aktuellen Corona-Pandemie und ihrer Informationsflut versuche ich auch im 2. Teil des gleichnamigen Artikels, Pandemien aus der Sicht der Belletristik zu betrachten.

Dafür habe ich Bücher von Antoine de Saint-Exupéry und José Saramago gelesen – und war überrascht und betroffen. Sie haben meinen Horizont bezüglich Krankheit, Leben und Tod erweitert. Gelegentlich musste ich mich sogar fragen, ob sich das Gelesene in der Literatur oder in unserer Corona-Realität abspielt

«Citadelle/Die Stadt in der Wüste» von Antoine de Saint-Exupéry (1948, posthum).

Antoine de Saint-Exupéry (c) dw.com

Im Oeuvre von Antoine de Saint-Exupéry betrachte ich das Buch «Citadelle/Die Stadt in der Wüste», mit seinen original fast tausend Seiten Manuskript und der inhaltlich und formal aussergewöhnlichen Erzählweise, als sein Opus Magnum. Dass es selbst literarisch Interessierte kaum kennen, erstaunt.

«Citadelle», posthum erschienen, ist weder ein Roman noch ein Tatsachenbericht, hat keinen Anfang und kein Ende, erinnert wegen seiner Form am ehesten an Nietzsches «Zarathustra». Seine Botschaft jedoch handelt nicht vom Übermenschlichen, sondern von dem «auf Gott hin» geschaffenen Menschen. Als Schauplatz dient die arabische Wüste, eine Landschaft von grandioser Monotonie, die der Autor als Pilot unzählige Male überflogen hatte. Angesichts der Erhabenheit dieser Natur prägen sich einem hier die Gesetze des menschlichen Seins tief in die Seele ein, deren Wahrheiten von einem legendären Herrscher erkannt, gelebt und verbreitet werden. Seine Forderungen an die künftigen Menschen sind hart, kommen aber aus einem Kern, der Güte heisst. Zur Einleitung schreibt der Herausgeber: «Niemals stellt Saint-Exupéry die Notwendigkeit der Welt infrage, die den Menschen geformt hat, der als Glied dieser Welt seinen Mitmenschen gegenüber verantwortlich ist. Da er die Voraussetzungen eines von Inbrunst erfüllten Lebens zu ergründen sucht, erforscht er die entscheidenden Etappen, die den Einzelnen mit Gott verbinden: die Familie, das Haus, den Beruf, die Gemeinschaft und deren Transzendenz durch das Streben nach einer Grösse, die alles übersteigt.»

Das Buch kann man nicht nacherzählen. Man verweilt in inneren und äusseren Dialogen und Monologen von Antoine und seinem Vater in Form von Anrufungen, Gesängen, Träumen, Bildern, Gebeten, Betrachtungen, Meditationen, Szenen, Verlautbarungen. Für mich ist «Die Stadt in der Wüste» Saint-Exupérys geheimnisvolles Vermächtnis, in seinen Worten «der Schlussstein und das Gewölbe meines Gesamtwerkes. Ich werde es niemals beenden. Es ist mein posthumes Werk!» Es besteht in einem unendlichen Sinnieren über die Erschaffung einer neuen Welt – angesichts unserer Corona-Epidemie, wie ich meine, der Ausdruck einer legitimen tiefmenschlichen Sehnsucht nach einer heilen Welt.

Ein Exkurs: «Der kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry (1943)

«Der kleine Prinz» gilt für viele als die grosse, allgemein verständliche Kritik an der Erwachsenenwelt und der Konsumgesellschaft, in der die «grossen Leute» sonderbare Äusserlichkeiten als Wertmassstab beanspruchen, dafür kulturell gewachsene zwischenmenschliche Zeichen und Werte vergessen. Im gesamten Werk des Autors versteht sich der Mensch als ein grossartiges Beziehungsgeflecht, aus Fantasie und Geist gewachsen. Einzigartigkeit erlangt er durch Symbolzuweisungen: Betrachtet der kleine Prinz einen Stern, erinnert dieser ihn an seinen Freund, den Piloten, der ihm an einem Wüstenbrunnen das Wasser des Lebens gespendet hat; den Piloten erinnern die Sterne an Millionen kleine Glöckchen, die er vom Lachen des kleinen Prinzen kennt. Solches Denken, von Geburt an im Menschen angelegt und im Kindesalter noch mächtig, lässt sich durch eine auf Besitz und Erfolg beschränkte Erziehung bald in die enge Erwachsenenwelt einpassen. – Bei der Lektüre des «Kleinen Prinzen» habe ich versucht, ihn in der kritischen Zeit der Corona-Pandemie auf seine Gültigkeit und Wirksamkeit zu hinterfragen, und es beschlich mich der Gedanke, ob nicht auch wir auf einem falschen Planeten leben.

«Eine Zeit ohne Tod» von José Saramago (2005)

(c) the-title.com

Mit einem fremdartigen Beitrag zur Diskussion über Leben und Tod, dem Roman «Eine Zeit ohne Tod», beschert uns Corona-Zeitgenossen der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger José Saramago. Das Buch handelt vom Aussetzen des Sterbens. Dafür hat er so etwas wie einen «umgekehrten» Totentanz erfunden.

Noch in der Silvesternacht fielen die Todkranken, Verunglückten und Alten, deren Zeit abgelaufen war, dem Lauf der Dinge zum Opfer, sie starben; doch schon «am darauffolgenden Tag starb niemand mehr». Diese Tatsache, dass unerwartet und aus unerfindlichen Gründen nicht mehr gestorben wird, gibt dem Roman seine Dynamik. Was für die einzelnen Bürger zunächst wie ein Geschenk daherkommt, verwandelt sich schnell in eine bittere Erkenntnis: Das verheissene ewige Leben, die fröhlich begrüsste Unsterblichkeit führt nicht zur Genesung der Schwerkranken und Alten. Das unendliche Dasein hat zur Folge, dass die Versehrten und Hoffnungslosen in einen Dämmerzustand zwischen Leben und Tod versinken, ohne von der Welt abtreten zu dürfen, da der Tod seinen Dienst verweigert.

«Alles ist unter Kontrolle, ausser der Rentenfrage, ausser der Todesfrage», heisst es im Roman  – und hiess es vornehmlich zu Beginn der Corona-Epidemie. Was zunächst abstrakt und paradox daherkam, entwickelte sich ab dato national und international zu einer Krise. Der Romancier kreist um die Frage, welche Folgen das ewige Leben für eine Gesellschaft hat. Wenn Nietzsche beim Menschen «keine grössere Banalität als den Tod» zu erkennen glaubt, versucht Saramago, dies mit seiner Vision zu widerlegen und die gesellschaftliche Funktion des alltäglichen Sterbens als ein Glück zu deuten. Damit greift er die aktuelle Debatte um die Pflege alter Menschen, die Wahrung der Würde des Lebensabends und der Sterbehilfe auf, berücksichtigt dabei auch praktische Fragen für die wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen des Staates angesichts des ausbleibenden Todes. Auch die Krankenhäuser und Altersheime ächzen unter der Last der zum Stillstand gekommenen Fluktuation. Vor dem Zusammenbruch stehen ebenfalls die Kirchen, fussen diese doch auf dem Gedanken der Wiedergeburt, der Reinkarnation, des Neubeginns, die doch alle den Tod voraussetzen. Welche Legitimation hat die Anrufung einer höheren Macht dann noch, wenn diese sich als unwillig erweist, den Tod zuzulassen oder sich ihm gegenüber als ohnmächtig erweist?

Es taucht die Frage auf, ob man dem Tod nicht irgendwie nachhelfen muss. Ob der Schriftsteller etwa schon den Sterbetourismus à la Dignitas vor Augen hatte? Im Roman übernehmen die Nachbarstaaten die erlösende Rolle, da dort der Tod noch seiner gewohnten Arbeit nachgeht. Saramago entwirft dafür eine landesweit tätige «Maphia», die sogar mit staatlicher Deckung die Todkranken über die Grenze bringt, sodass diese dort sterben können.

Vorläufiger Abschluss

Die Bücher, die mich über die Zeit des Lockdown begleitet haben, führen mir immer noch vor Augen, wie fragil der Mensch, die Gesundheit von Körper und Geist, und das Zusammenleben in der Familie, Gruppe und Gesellschaft sich erweisen – und wie differenziert die Belletristik dies alles zu thematisieren und zu deuten vermag.

Link zu Teil 1: https://seniorweb.ch/2020/08/03/corona-von-der-belletristik-beleuchtet-teil-1/

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