Als ehemaliger Arzt setzt sich Urs Pilgrim mit dem Thema Medizin und Religion auseinander und sucht anhand der Bilder aus dem Kloster Muri nach Antworten in seinem Buch «Was hilft?».
In allen Kulturen gehörten Religion und Medizin eng zusammen. Medizinmänner, Schamanen oder Priester nahmen nicht nur kultische, sondern auch medizinische Handlungen vor. Auch Jesus von Nazareth war nicht nur ein charismatischer Wanderprediger, sondern ebenso ein wundertätiger Heiler, der aus Mitgefühl heilte, ohne Dogma. Im Glauben finden viele Menschen bis heute Trost und Zuversicht.
Autorenporträt: Urs Pilgrim
Urs Pilgrim (*1945) führte bis zu seiner Pensionierung im aargauischen Muri eine Hausarztpraxis und war bis 2016 Präsident der Stiftung «Murikultur». Dank seinem Einsatz ist das Kloster Muri heute ein kultureller Begegnungsort für Kunst und Musik und präsentiert dauerhaft die Gemälde des aus Muri stammenden Alpenmalers Caspar Wolf sowie eine Sammlung medizinhistorischer Bücher.
Muris Klosteranlage mit dem reichen kulturellen Erbe inspirierte den Autor, die Malereien und Skulpturen auf die Schnittmengen zwischen Medizin und Religion hin zu untersuchen.
Als Arzt musste er für religiöse Fragen offen sein, und er schreibt dazu: «Früher suchte man für den verstauchten Fuss Hilfe beim Arzt, für familiäre Sorgen aber beim Pfarrer». Heute müsse ein Arzt sowohl ein kompetenter «Körpersorger» als auch ein empathischer «Seelsorger» sein. Mit seinem offenen ärztlichen Blick versteht er es, das Bildwerk in der Klosterkirche und im Kreuzgang nicht nur mit den zugrundeliegenden Bibeltexten in Verbindung zu bringen, sondern auch medizinische und gesellschaftliche Bezüge herzustellen, die lebensnah und verständlich sind.
Die Beschneidung Jesu. Holzschnitzwerk im Chorgestühl von Simon Bachmann, 1650-1657. Jüdische Knaben werden am achten Tag nach der Geburt beschnitten als Zeichen für den Bund mit Jahwe, medizinisch gesehen wird damit das Infektionsrisiko gesenkt.
Sein Wissen über christliche und vorchristliche Religion erlaubt es Urs Pilgrim auf undogmatische Weise, Querverbindungen zwischen Religion und Medizin zu schaffen. So geht er auf die Reinheitsgebote im alten Judentum ein, die nicht nur kultische, sondern auch hygienische Bedeutung hatten. Eine entsprechende Illustration findet er im geschnitzten Chorgestühl der Klosterkirche von 1650 mit der «Darstellung im Tempel und Reinigungsopfer». Im Altertum galt die Mutter vierzig Tage nach der Geburt eines Knaben als unrein, bei Mädchen achtzig Tage. Was uns heute frauenverachtend vorkommt, diente der jungen Mutter als Schutz, denn das damit verbundene Verbot von Sexualkontakten bewahrte sie vor Infektionskrankheiten.
Gott führt Adam Eva zu. Ausschnitt aus dem Masswerk Fenster von Heinrich Leu, 1557.
Die siebenundfünfzig bunten Kabinettscheiben im Kreuzgang, die in neunzehn dreiteiligen Lanzettfenstern mit Masswerk eingefasst sind, studierte Urs Pilgrim sehr genau und entdeckte Details, die in der Fülle leicht übersehen werden.
In den Bildern zur Entstehung des Menschen unterstrich der Glasmaler die Bedeutung der Sexualität der biblischen Aussage «pflanzet euch fort und mehret euch!» auf seine Weise: Gott in Gestalt eines Königs bläst Adam mit einem goldenen Strahl den Atem ein, doch dem nackt auf dem Boden sitzenden Adam fehlt noch das Geschlechtsorgan. Und da Gott nicht will, dass der Mensch allein lebt, führt er ihm Eva zu. In dieser Darstellung wendet sich Adam desinteressiert auf die andere Seite, aber immerhin ist er nun mit einem Penis ausgestattet.
Um die Bedeutung der nachfolgenden Vertreibung aus dem Paradies besser zu verstehen, findet der Autor mit einem Exkurs in die Entwicklungsbiologie interessante Ansätze, die Eva symbolisch mit der Suche nach geistiger Nahrung, Wissens-Durst und Bildungs-Hunger in Verbindung bringt.
Die Heilung des Blinden. Fresko von Francesco Antonio Giorgioli, 1696/97.
Im Kapitel «Krankheit, Tod und Ewiges Leben» setzt sich Urs Pilgrim mit der Frage, weshalb wir gesund werden, auseinander. Als Arzt ist ihm bewusst, dass die Grenze zwischen gesund und krank trotz hochentwickelter Diagnosemöglichkeiten oft schwierig einzuschätzen ist, denn sich gesund oder krank fühlen, erlebt man subjektiv. Viele Heiligenlegenden berichten von der Heilung Kranker, und bis heute pilgern Menschen an Wallfahrtsorte wie Lourdes und erfahren dort mitunter Heilung. Die Kirche bezeichnet dies als Wunder, die wissenschaftliche Medizin als Spontanheilung durch Selbstheilungskräfte. Auch vom Placeboeffekt ist bekannt, dass durch die Erwartungshaltung und bildliche Vorstellung Patienten gesund werden können.
Mit den Schuldgefühlen seiner Patienten, die ihre Krankheit als eine Strafe Gottes ansehen, war der Hausarzt öfter konfrontiert. Für die Gläubigen sind die alttestamentarischen Bezüge zwischen Sünde und Krankheit irritierend. Urs Pilgrim hält dagegen und erkennt in den Wandbildern mit Heilungsszenen durch Jesus ganz klar die Widersprüchlichkeit solcher Vorstellungen. Denn heilen, meint er, war ein wesentlicher Bestandteil der Verkündigung, heilen aus Nächstenliebe, als Akt der Barmherzigkeit, auf spiritueller sowie auf körperlicher Ebene, damit konnte Jesus seine Verbindung mit Gott beweisen. Zudem ist Pilgrim der Ansicht, «es gibt gesunde Sünder und kranke Heilige», der Gesundheitszustand sei kein Gradmesser für die Rechtschaffenheit im Leben.
Urs Pilgrim ist aufgrund seiner langjährigen Erfahrung als Hausarzt überzeugt, dass Religion durchaus Medizin sein kann. Auch in der modernen Medizin könne Religion zum Gesundwerden und Gesundbleiben beitragen, und er stimmt mit Paracelsus, dem berühmten Schweizer Arzt des 16. Jahrhunderts, überein: «Die Liebe ist die höchste aller Arzneien».
Titelbild: Kloster Muri mit Singisenflügel (links) und Konventflügel (rechts). Wikimedia Commons
Fotos: Bernhard Kägi, Muri
Urs Pilgrim, Was hilft? Medizin und Religion in Bildern aus dem Kloster Muri. Theologischer Verlag Zürich, 2020. ISBN 978-3-290-20191-3
Das Buch enthält eine Liste der 72 besprochenen Bilder sowie einen Situationsplan der Klosteranlage, wo diese zu finden sind.