StartseiteMagazinKulturLiebe und Familie im Kultur-Clinch

Liebe und Familie im Kultur-Clinch

Gitta Gsell erzählt im Spielfilm «Beyto» von drei jungen Menschen, die im Clinch sind zwischen Hetero- und Homosexualität und zwischen den Kulturen des Islam und des Westens, ein unterhaltsames, aufklärerisches Melodrama.

«Die Thematik ist jederzeit aktuell: Menschen im Clinch zwischen verschiedenen Kulturen und Lebensentwürfen. Das Handeln der eingewanderten Eltern, die sich nicht so schnell an eine neue Kultur anpassen können, kann man nachvollziehen. Ebenso versteht man auch den Sohn Beyto, der in der Schweiz aufgewachsen ist, eine völlig andere Kultur kennengelernt hat und selbst bestimmen möchte, mit wem er sein Leben verbringt.» So führt die Regisseurin Gitta Gsell, 1953 in Zürich geboren, nach USA-Aufenthalten wieder in der Schweiz tätig, den Film «Beyto» ein.

Beyto ist ein talentierter Schwimmer, ein motivierter Lehrling, ein cooler Kumpel, steht mitten im Leben und hat vor sich eine rosige Zukunft. Eigentlich. Doch als sich der einzige Sohn türkischer Einwanderer in seinen Trainer Mike verliebt, bricht die heile Welt dieser Familie zusammen. Schockiert und beschämt sehen seine Eltern nur einen Ausweg: Beyto muss heiraten und damit Tradition und Ehre bewahren. Sie locken ihren Sohn in ihr Heimatdorf und planen, ihn mit Seher, seiner Freundin aus Kindheitstagen, zu verheiraten. Plötzlich befindet sich Beyto nun in einer herzzerreissenden Dreiecksbeziehung: Wie kann er zu Mike zurückfinden, ohne Seher ihrer Zukunft zu berauben? Subtil, sinnlich und unterhaltsam erzählt die Regisseurin mit aufgestellten Darstellerinnen und Darstellern die Liebesgeschichte der drei jungen Menschen.

Mutter und Vater von Beyto mit Braut Seher und Beyto

Aus einem Statement von Gitta Gsell zu «Beyto»

Beyto ist eine filmische Adaption des Buches «Hochzeitsflug» von Yusuf Yesilöz. Seine Romane kenne ich seit Langem. Bei diesem Werk hatte ich sofort das Gefühl, dass sich der Stoff für einen Film eignet. Ich habe damals Jugendliche unterrichtet und einerseits den Slang mit miesen, ausgrenzenden Schimpfworten hautnah mitbekommen und anderseits die Problematik erlebt, der Jugendliche mit Migrationshintergrund ausgesetzt sind. Bei jeder Figur ist ihre Lebenshaltung verständlich. Die Eltern möchten ihre Tradition aus dem kleinen türkischen Dorf auch in der Schweiz weiterleben. Sie träumen von den trockenen Hügeln Anatoliens und verschliessen sich gegen die Einflüsse der modernen Schweiz. Beyto ist hin- und hergerissen zwischen türkischer Kultur und schweizerischer Moderne und sucht einen Weg zwischen dem Familienzusammenhalt zu Hause und den Freiheiten der westlichen Welt.

Der Film «Beyto» beleuchtet ein aktuelles Problem. Die von den westlichen Gesellschaften über Jahrhunderte erkämpfte Freiheit und Toleranz werden durch Migranten patriarchalischer Gesellschaften relativiert. Der Film thematisiert dieses Spannungsfeld ohne Schuldzuweisung. Dabei geht es um individuelle Lebensmuster, die sich innerhalb des Spannungsbogens von Normen, Ideologien und Wertvorstellungen behaupten müssen. Der Film ist die Geschichte eines jungen türkischen, exemplarisch auch anderer jungen und älterer Menschen, die ein eigenes Leben führen möchten. Beyto hat Angst, die Erwartungen der Eltern nicht zu erfüllen. Er lebt wie so viele in unserer Zeit ein Doppelleben, und die anfänglich kleine Lüge führt im Dominoeffekt in eine scheinbar ausweglose Situation.

Das Brautpaar mit den Eltern von Seher

Die Familie in Ordnung bringe …

Beyto, der Stolz seiner Eltern, schreibt gute Noten, macht keine Schwierigkeiten und hilft im elterlichen Dönerladen. Seine grosse Leidenschaft ist das Schwimmen, womit die Eltern zwar wenig anfangen können. Doch solange seine Ausbildung nicht darunter leidet, dulden sie es. Er verkehrt mit Freunden im türkischen und schweizerischen Umfeld. Doch für die Einwandererfamilie aus Zentralanatolien ist eines klar: Ihr Sohn soll es einmal besser haben als sie selbst. Diese Hoffnung wird allerdings jäh zerstört, als Beyto sich in seinen Trainer Mike verliebt. Das gibt für ihn Probleme: Etwas verliert er immer, entweder den Rückhalt in seiner Familie oder sein Ich als freiheitsliebender, toleranter schwuler Beyto. Unbestritten sind solche und ähnliche Konflikte für viele Menschen in einer Welt, bei der im Rahmen der Globalisierung und der Völkerwanderungen die verschiedensten Kulturen aufeinanderprallen: in diesem Film die eines konservativen Islam und eines liberalen Westens, der Moderne und der Tradition. 

Auch wenn Beyto am Anfang die Beziehung zu Mike vor seinen Eltern verheimlichen kann, machen erste Gerüchte bald die Runde. Der eigene Sohn schwul! Was wird man im Dorf sagen? Schnell ist für die Eltern klar: Dem Sohn muss der Kopf zurechtgerückt, er muss auf den «rechten» Weg» geführt, die Familie muss in Ordnung gebracht und die Ehre wiederherstellt werden. In aller Eile wird eine Hochzeit mit Seher, Beytos Freundin aus Kindertagen, arrangiert. Die Reise in die Türkei ist im Grunde ein manipuliertes Unternehmen, um die konservativen Familien- und Moralwerte, ohne Einverständnis des Sohnes, durchzusetzen.

 Seher und Beyto in der Hochzeitsnacht

…oder Menschen die Freiheit geben?

Als Beyto, Seher und die ganze Familie nach der äusserlich festlichen, innerlich zwiespältigen Hochzeitsfeier den Konflikt der Verleugnung nicht mehr aushalten, wird entschieden, gemeinsam in die Schweiz zu reisen. Die Frischverheirateten reisen mit Beytos Eltern in die Schweiz, wo auch Seher Möglichkeit bekommen soll, zu lernen und zu arbeiten. Doch in Tat und Wahrheit schafft diese ebenfalls manipulierte Unternehmung für Beyto, für Seher und für Mike eine kaum zu ertragende Dreiecksbeziehung: Freiheit oder Tradition? Liebe oder Familie? Beytos steckt in einer Identitätskrise im Spannungsfeld zweier Kulturen. Dialoge, die für das Offizielle stehen, treten allmählich in den Hintergrund und lassen Bildern Raum für das Ungesagte und Nichtsagbare: Beytos und Mikes Träume von einer gemeinsamen Zukunft ohne ewiges Versteckspiel, Sehers Hoffnung auf eine bessere Zukunft in einer neuen Heimat, die Ängste und Sorgen von Beytos Eltern, die ihre Rolle als fromme Muslime für ihren Sohn und sich nicht bewahren können. 

In verschiedenen Szenen gibt es Andeutungen, die einen an eine Lösung glauben lassen; doch Trauer und Enttäuschungen überschatten die gemeinsame Zeit in der Schweiz. Die drei jungen Menschen sind enttäuscht; doch Enttäuschung bedeutet bekanntlich: sich von einer Täuschung befreien, was ihnen vielleicht neue Wege zeigen kann, die Gitta Gsell gegen Schluss in der fast ausweglosen Situation leise erhoffen lässt. 

Regie: Gitta Gsell, Produktion: 2020, Länge: 98 min, Verleih: Frenetic

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