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Mit Fotos das Leben ergründen

Der Fotograf Gilles Caron verschwand spurlos von der Bildfläche, nachdem er sechs Jahre lang von wichtigen Brennpunkten der Erde berichtet hatte. Mariana Otero machte sich mit ihrem Dokumentarfilm «Gilles Caron – Historie d’un regard» auf die Suche nach dem Menschen hinter den Bildern. – Ab 12. November im Kino.

Gilles Caron verschwand 1970, kaum 30-jährig, in Kambodscha, mitten in einer schillernden Karriere als Fotojournalist. 1967 war er, nachdem er sich als Amateur hochgearbeitet hatte, zur legendären Fotoagentur Gamma gestossen. Während sechs Jahren galt der Fotograf als einer der wichtigsten Zeitzeugen und berichtete für die grössten Zeitschriften über den Sechstagekrieg, den Mai 68, den Nordirlandkonflikt, den Prager Frühling, den Vietnamkrieg und Kambodscha.

Als die Regisseurin Mariana Otero das Werk von Gilles Caron entdeckte, erregte ein Foto ihre Aufmerksamkeit besonders, in dem ihre eigene Geschichte widerhallte, das Verschwinden eines geliebten Menschen, der nur Bilder hinterlassen hatte, die es zu entschlüsseln galt. Dann tauchte sie in das Oeuvre von 100’000 Aufnahmen ein, um ihnen eine Gegenwart zurückzugeben und vom einzigartigen Blick Carons zu erzählen. Ein Film für Menschen, die gerne, doch nicht bloss als Hobby, fotografieren, solche, die Zeitgeschichte über Fotografien nachvollziehen möchten, sowie solche, die versuchen, mit Bildern die Welt und das Leben zu ergründen. Beiläufig kommentiert «Gilles Caron – Historie d’un regard» auch die Rolle der Fotografie, vor allem der Kriegsfotografie.

100’000 Aufnahmen, auf einer Festplatte archiviert

Vom Ursprung des Films

«Eines Tages liess mir der Drehbuchautor Jerôme Tonnerre ein Buch zukommen. Es war die Biografie eines Fotografen. Beim Durchblättern entdeckte ich grossartige Aufnahmen, von denen mir einige bekannt vorkamen, seltsamerweise kannte ich aber den Namen desjenigen nicht, der sie gemacht hatte: Gilles Caron. Und dann stiess ich auf die letzten Seiten des Buches. Sie erzählen die Geschichte von Gilles Carons plötzlichem Verschwinden in Kambodscha im Jahr 1970.

Man sieht seine letzten Bilder, kambodschanische Jugendliche, die mit einem Lächeln auf den Lippen die Uniform anziehen, um in den Krieg zu ziehen. Unter diesen Reportagefotos sieht man ein Bild von zwei kleinen Mädchen mit Mützen in einem winterlichen Garten, Marjolaine und Clémentine, seine beiden Töchter. Ich war ergriffen. Wie in einem Spiegel fand ich die Zeichnungen, die meine Mutter Clotilde Vautier kurz vor ihrem Tode im Jahr l968 von meiner Schwester und mir als Kinder gemacht hatte; auch sie war kaum 30 Jahre alt.»

Die Filmemacherin Mariana Otero *1963

Von den Fotos zum Fotografen …

«Histoire d’un regard s’avère le meilleur film à délier pour retrouver l’homme disparu derrière l’objectif», schrieb «Le Monde» über den Film. Tatsächlich offenbart uns der Film, von Mariana Otero mit Sorgfalt und Empathie angeleitet, die Feinheiten, die Gilles in die Fotos hineingelegt hat, die Hintergründe, mit denen sie erst verständlich werden, ergänzt durch Aussagen seiner Frau Marianne, die uns die persönlichen Verbindungen erahnen lässt, indem sie die Obertöne seiner Bilder erklingen lässt, erweitert durch Aussagen von Kollegen, welche die Werke in einen grösseren journalistischen und politischen Zusammenhang stellen. Die Regisseurin führt uns also durch die Fotos zum Fotografen, der motiviert und geführt wurde von Kräften, die wohl auch andere Kriegsberichterstatter kennen. 

Montieren heisst gestalten und interpretieren

… vom Fotografen zur Welt …

Vielleicht geht es auch andern so wie mir: Die Bilder, die Abbilder sind, führen mich zu neuen, wie immer vielfältigen und mehrdeutigen Wirklichkeiten. «Ich wollte den Weg verstehen und rekonstruieren, den Caron gemacht hat», meint die Regisseurin, «und dafür dem Fotografen über die Schultern schauen». Das bedeutet wohl, dass Mariana Otero sich nicht mit einem konventionellen Biopic begnügt. Diese Fotos sind nicht das Endprodukt, sondern eine Art Durchlauferhitzer in einem Prozess auf etwas dahinter, davor, darüber, darunter, wofür mir als Beleg meist die Worte fehlen, nicht aber die Gefühle.

Ans Ziel kam sie erst nach einer «obsessiven, beinahe archäologischen Arbeit» während mehreren Monaten. Die Stimmen im Film, sei es jene der Regisseurin, der Witwe oder des Fotografen Robert Pledge bringen eine Vielfalt von Subjekten ins Werk, welche die in den Fotos vorgelegten Wirklichkeiten über das Faktische hinaus ins Symbolische erweitern. Ab hier ist es denn auch nicht mehr weit zu mir, der ich durch den Film und die Fotografien hindurch die Welt dahinter, davor, darüber, darunter neu betrachte.

… vor ihm, vor uns

Fotos über den 6-Tagekrieg erbringen, von einem israelischen Spezialisten interpretiert, neue Beweise für die Nakba, die gewaltsame Vertreibung der Palästinenser aus ihrem Land. Bei den Fotos des Religionskrieges in Nordirland sucht Mariana Otero einige auf den Fotos abgebildete, damals junge, heute alte Menschen auf und erfährt Neues, das aufwühlt. Der letzte Brief Gilles, dessen Gewohnheit es nie war, während den Reportagen nach Hause zu schreiben, stammt aus Kambodscha und beginnt mit folgendem Bekenntnis: «Meine liebe Marianne, ich wünschte so sehr, ich wäre nie geflogen», was frühere Aussagen von ihm bereits ahnen liessen. Denn er konnte die Welt, in der er war, kaum mehr aushalten, da sie ihn mit ihrer brutalen Absurdität zu erschlagen drohte. Anhand der Bilder der letzten Filmrolle, Nummer 19599, fliegt Marianne dorthin, wo Gilles wohl seine letzten Stunden verbracht hat, auf jene Strasse, von wo viele andere Journalisten verschwunden sind, und auf die Fähre, auf welcher er wohl nur noch die Hinfahrt erlebt hat. Sie wolle, so die Fotos kommentierend und ergänzend, nicht in das schwarze Loch hineinfallen, sondern mit ihren Kindern weiter ein gutes Leben leben.

Hinweis auf vergleichbare Filme

Interessant kann es sein, «Gille Caron – Histoire d’un regard» von Mariana Otero zu vergleichen mit «Camille» von Boris Lojkine über Camille Lepage, die Jahre vor Caron ebenfalls als Fotojournalistin gearbeitet hat und bei dabei umgekommen ist. Weiter von Interesse könnte ein Vergleich sein mit dem Zeichentrickfilm «Chris the Swiss» von Anja Kofmel über ihren Cousin, der die Grenze des Kriegsjournalismus überschritt und Milizionär wurde. – Die detaillierte Chronologie im Anhang ergänzt meine persönliche Interpretation des berührenden Films.

Titelbild: Der Fotograf Gilles Caron (1939 – 1970) 

Regie: Mariana Otero; Produktion: 2020, Länge: 93 min, Verleih: trigon-film.org

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1 Kommentar

  1. Es gab schon immer Leute die verschwinden.
    Die meisten verschwinden ganz einfach und unspektakulär auf einem Friedhof. Es bleibt – eine Zeile auf einer buchartigen Seite mit der Einteilung Jahr.
    Andere verschwinden aus einer Region, aus dem Land und sind nur noch erreichbar über das Internet mit ihrem Namen. Doch dazu ist einer wie Meier oder Müller nicht günstig als Suchbegriff. Ausserdem ist auch der Name nicht immer bleibend mit einer Person verbunden und am schnellsten und einfachsten geht er bei Frauen verloren durch Heirat.

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