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Wenn Traditionen aufbrechen

Ein alter Mann blickt zurück auf seine Kindheit und Jugend, auf die Spannungen seiner Eltern, einer Künstlerin, die alle Konventionen sprengt, und einem politisch engagierten Lehrer. Der Garten meiner Mutter der indischen Schriftstellerin Anuradha Roy geht über das Persönliche hinaus.

Gärten, Blumen, Bäume – besonders die eindrucksvollen Banyanbäume –, ein naher Fluss, die Vögel in den Bäumen, daraus entsteht die Atmosphäre des Romans von Anuradha Roy. Die Autorin erzählt von einem neunjährigen Jungen im Norden Indiens, der seine Mutter verliert, denn diese hält es neben ihrem trocken-nüchternen Mann nicht aus. Sie flieht zusammen mit zwei europäischen Künstlern, dem deutschen Maler und Musiker Walter Spies und der holländischen Tänzerin Beryl de Zoete nach Bali. Eine ungeheuerliche Geschichte im Indien der 1930er Jahren. Dem Jungen bleibt als lebendige Erinnerung der Garten, in dem die Mutter oft gemalt hat. Später wird er als Gartenarchitekt Pärke gestalten, zunächst in Delhi und dann in seinem Heimatort, und er wird für jeden Baum kämpfen.

ein Garten auf dem Lande (mp)

Wir lernen den Jungen nur mit seinem Kosenamen kennen, Myshkin, wie der Held in Dostojewskis «Der Idiot». Er schreibt als alter Mann rückblickend über sein Leben, springt dabei zwischen den Epochen hin und her. Der ungewöhnliche Kosename deutet es an: Die Familie orientiert sich nicht nur an den überlieferten Traditionen, Myshkins Vater und Grossvater unterrichten an einem englischen College. Ein anderer Grossvater war ein nach Indien eingewanderter Engländer. Die Familie ist jedoch nicht auf die Kolonialherren ausgerichtet, im Gegenteil: Myshkins Vater engagiert sich stark für Gandhis gewaltlosen Kampf für die Unabhängigkeit.

Kolonialismus und Gandhis gewaltloser Kampf

Der grosse Dichter Rabindranath Tagore wurde sehr verehrt, denn er war mit Myshkins Grossvater mütterlicherseits befreundet. Da finden wir den Ursprung des Wegs, den Gayatri, Myshkins Mutter, später einschlägt. Durch einen anderen Freund beschloss Gayatris Vater, sich mit seiner Tochter einer Schiffsreise anzuschliessen, die Tagore und einige seiner Freunde nach Java und Bali führen sollte. Vater und Tochter erweiterten diese Reise mit einem Besuch von Angkor Wat und Singapur – eine richtige Bildungsreise mit der ausgesprochenen Absicht zu zeigen, dass es ein gemeinsames asiatisches Kulturerbe gibt, das den Kolonialismus überdauern sollte.

Foto der Autorin:  © Francesca Mantovani

Diese Reise prägt die knapp Siebzehnjährige in allen ihren Zielen und Lebensentwürfen. Wie sie in ihrer Jugend und Schüchternheit nur zögernd mit Rabindranath Tagore in Kontakt kommt, jede seiner Bemerkungen aufsaugt und sich später davon leiten lässt, wird anschaulich beschrieben. In Bali begegnet die Reisegesellschaft Walter Spies, der damals schon dort wirkte. – Walter Spies ist bis heute in Bali bekannt, seine Malerei erinnert an den Franzosen Henri Rousseau. Spies belebte aber auch das Musikleben auf Bali, er regte u.a. die Gründung von Gamelan-Orchestern an, die heute zum balinesischen Kulturerbe gehören. – Wer je auf Bali war, wird den vielfältigen Klang dieser Gongs nicht vergessen.

Das kulturelle Erbe Indiens und europäische Kultur

Die junge Gayatri hat seitdem den unauslöschlichen Wunsch, wie Spies zu malen und wie er auf Bali zu leben. Kaum zurück von dieser Reise, stirbt ihr Vater, sie heiratet einen seiner früheren Schüler und bald kommt Myshkin zur Welt, das einzige Kind der beiden. Gayatris Vater hatte ihre künstlerischen Interessen gefördert – unüblich in der indischen Tradition – und nun will die junge Frau sich entfalten, als Hausfrau fühlt sie sich nicht wohl und, wie erwähnt, die Temperamente der Ehegatten sind oft genug Anlass zu Streit und Missstimmung. 1937 geschieht dann das Unerwartete: Walter Spies besucht die Familie zusammen mit der Tänzerin. Als sie weiterreisen, mit Bali als Ziel, fährt Gayatri mit. Sie hätte ihren Sohn mitnehmen wollen, aber der Junge kommt nicht rechtzeitig von der Schule zurück.

Der Garten meiner Mutter, der englische Titel lautet All the Lives We Never Lived, beschreibt nicht nur den schwierigen Lebensweg der Protagonisten, besonders von Myshkin und Gayatri, er eröffnet daneben Einblicke in das Leben gebildeter Inder und von Künstlern und Forschern, die Neues in der Kunst suchen und die ethnologischen Schätze Asiens erkunden.

Bali – ein Hotspot von Kunst und ethnologischer Forschung

Der Bali-Circle zog auch die bekannte Ethnologin Margaret Mead an. Sie besuchte den Künstlerkreis mit ihrem Mann zu der Zeit, als auch Gayatri dort lebte. – Der Lesenden gelang es nicht herauszufinden, ob Gayatri wirklich als Malerin in Bali lebte, was wahrscheinlich ist, aber kaum mehr recherchierbar. – Was die Autorin über historische Personen schreibt, ist belegt. Es geht Anuradha Roy darum, die kulturellen Verbindungen zwischen den Kontinenten in den Jahrzehnten zwischen den beiden Weltkriegen darzustellen, mit Indien und Bali als im Zentrum. Sie zeigt auf, wie die Gandhi-Anhänger von den englischen Kolonialherren unterdrückt wurden, wie sich die europäischen und die indischen Kulturen gegenseitig befruchteten und wie die politische Entwicklung in Europa auch asiatische Länder beeinflusste. 

Schliesslich wirkt der 2. Weltkrieg auch in Indien bzw. im indonesischen Bali mehr oder weniger einschneidend. Diese frühe Globalisierung stellt Anuradha Roy an wenigen Figuren exemplarisch dar. Darin liegt ihr Verdienst. In den Kleinstädten verlief das Leben auch fünfzig Jahre später noch so, wie die Autorin es beschreibt, ja trotz Massentourismus und sich ausbreitender IT-Technik würden Reisende auch in unseren Tagen noch abseits der grossen Zentren solche ländliche Beschaulichkeit finden.

Anuradha Roy, geboren 1967 in Calcutta, begleitete als Kind ihren Vater, einen Geologen, oft auf seinen Reisen durch das ländliche Indien. Später besuchte sie Schulen in Hydarabad, studierte in Calcutta und Cambridge GB. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Ranikhet. Der Garten meiner Mutter, ihr vierter Roman, ist der erste auf Deutsch übersetzte.

Anuradha Roy: Der Garten meiner Mutter. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Luchterhand Verlag 2020. 416 Seiten. ISBN: 978-3-630-87632-0

Titelbild: Banyanbaum in Indien (Foto mp)

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